Ukraine-Talk bei Illner "Lage in der Bundeswehr ist so prekär wie noch nie"
20.01.2023, 03:25 Uhr
"Wir sind mehr oder weniger nackt", sagt André Wüstner vom Bundeswehrverband über die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands.
(Foto: IMAGO/epd)
Deutschland hat mit Boris Pistorius einen neuen Verteidigungsminister. Am Donnerstag wurde er vereidigt und traf sich danach mit seinem amerikanischen Amtskollegen. An diesem Freitag könnte eine wichtige Entscheidung anstehen. Darüber haben am Donnerstagabend die Gäste bei Maybrit Illner diskutiert.
Wird die Bundesregierung die Genehmigung für die Lieferungen von "Leopard-2"-Kampfpanzern an die Ukraine erteilen? Darüber werden sich vermutlich die Alliierten bei einem Treffen in Ramstein am heutigen Freitag verständigen. Dann wird sich der neue Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius von der SPD zum ersten Mal auch auf internationalem Parkett bewähren müssen. In der ZDF-Talkshow "Maybrit Illner" haben die Gäste die dringlichsten Aufgaben aufgezeigt, die auf den neuen Minister zukommen werden. Die Panzer-Entscheidung ist nur eine davon.
"Ich bin sehr froh, dass er jetzt der neue Verteidigungsminister ist", zeigt sich SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert erleichtert. "Und ich hoffe, er kann sich beweisen, ohne das in einem Zustand des Krieges in unserer Nachbarschaft tun zu müssen." Ein Wunsch, der eher nicht in Erfüllung gehen dürfte. Denn sowohl Militärexperte Carlo Masala als auch André Wüstner, Oberst und Vorsitzender des Deutschen Bundeswehrverbandes fürchten, dass sich der Krieg in der Ukraine noch Jahre hinziehen kann.
Für Thomas Kleine-Brockhoff ist wichtig, dass die Politik in Deutschland die "Größe und Dramatik der notwendigen Reformen" begreift. Kleine-Brockhoff arbeitet für den "German Marshall Fund oft the United States", eine US-Stiftung, die nach eigenen Angaben die transatlantischen Beziehungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft fördern will. Seiner Meinung nach steht die Verteidigungspolitik in Deutschland vor wichtigen Reformen bei Finanzierung, Ausrüstung und Beschaffungswesen.
In den letzten Jahren habe Deutschland vor allem bei der Zahl der Soldaten abgerüstet – von einer halben Million auf 180.000. Die Aufgabe müsse jetzt sein, "Diese kleine Truppe modern, verteidigungsfähig und abschreckungsfähig zu halten. Und da wünsche ich mir ein bisschen Deutschland-Tempo." Deutschland sei es gelungen, innerhalb eines knappen Jahres LNG-Terminals zu bauen. "Aber mit der Verteidigung haben wir es nicht so eilig gehabt. Da muss man mal eine Schippe Kohle drauflegen."
"Er beherrscht das Vokabular"
Da könnte mit Pistorius der richtige Mann auf dem richtigen Posten sitzen, hofft Militärexperte Masala. "Er beherrscht das Vokabular schon recht gut, und er vermittelt den Eindruck, er hat eine Ahnung von dem, was er da sagt." Masala weiß aber auch, dass der Verteidigungsminister nur ein Teil eines Ganzen ist. Für die notwendigen Reformen brauche es ein großes Team. Denn bei Verteidigungsministerium und Bundeswehr handle es sich um einen riesigen und sehr komplizierten Apparat.
Vordringlich gehe es jetzt darum, dass Deutschland bei den Verbündeten wieder als zuverlässiger Partner wahrgenommen werde, betont die CDU-Bundestagsabgeordnete Serap Güler, die auch Mitglied im Verteidigungsausschuss ist. Bei dem Treffen der Bündnispartner in Ramstein müsse eine Entscheidung über die Lieferung von "Leopard-2"-Kampfpanzern in die Ukraine fallen. "Wir können die Panzer liefern", sagt sie.
Die Hauptfrage, auf die sich die Verbündeten in Ramstein fokussieren müssten, sei jedoch die geopolitische Dimension des Krieges. Sollte die Ukraine nicht gewinnen, stünde die Sicherheit Europas auf dem Spiel. "Deshalb ist die Panzerlieferung nur ein Follow-up. Wenn wir die Ukraine neben Schützenpanzern auch mit Kampfpanzern ausstatten, ist das eigentlich nur die logische Schlussfolge, damit sich die Ukraine selbst verteidigen kann."
"Der Leo ist kein Gamechanger"
Doch hier beschwichtigt Experte Carlo Masala: Wirklich kriegsentscheidend sei der "Leopard 2" nicht. Sein Vorteil gegenüber dem "Leopard 1" sei, dass er in einem Panzerduell bestehen könne. Er könne mit dazu beitragen, von Russland besetzte Gebiete in der Ukraine zu befreien. Aber: "Der 'Leopard' ist kein Gamechanger", sagt Masala. Die Verbündeten könnten aktuell 50 bis 80 "Leoparden" liefern, also zwei Bataillone. Nach den deutschen Einsatzgrundsätzen könne damit eine Fläche von zehn Quadratkilometern verteidigt werden. Die Front im Osten der Ukraine sei aber etwa 1.300 Kilometer lang.
"Die Panzer haben einen Symbolcharakter", erklärt Thomas Kleine-Brockhoff. Russlands Präsident Putin gehe von der Schwäche der westlichen Alliierten aus. Die Aufgabe der Panzer sei, Putin zu zeigen, dass der Westen nicht klein beigeben werde und dass Russland mit der westlichen Industrieproduktion nicht mithalten könne. Wichtig sei allerdings, die Munitionsproduktion voranzutreiben.
"Wir sind mehr oder weniger nackt"
André Wüstner vom Bundeswehrverband sieht aber noch ein Problem: Die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands. "Wir sind mehr oder weniger nackt", sagt er. "Die Lage in der Bundeswehr ist so prekär wie noch nie zuvor." Man habe während des letzten Jahres immer wieder eigene Bestände in die Ukraine geliefert. Die Politik habe es aber versäumt, das Gelieferte zu ersetzen.
Masala unterstützt ihn: "Wir agieren wie in Friedenszeiten. Eine der Aufgaben des neuen Ministers wird es sein, ein koordiniertes Vorgehen mit der Rüstungsindustrie zu vereinbaren", sagt er. Wüstner: "Wir müssen endlich Gas geben." Wenn zum Beispiel eine Munitionsfabrik eröffnet werden solle, könne man nicht zwei Jahre für Genehmigungsverfahren ins Land gehen lassen. "Die Politik hat teilweise den Schuss noch nicht gehört!"
Aber da hat Kevin Kühnert eine gute Nachricht: Die Regierung arbeite daran. "Wir werden ein Gesetzespaket vorlegen, um das alles zu beschleunigen." Wann? "In nächster Zeit."
Quelle: ntv.de