"Niemand von uns verharmlost" Merkel gegen schnellen Abzug
22.04.2010, 10:10 UhrBundeskanzlerin Merkel räumt Fehler in Afghanistan ein, hält am Einsatz der Bundeswehr aber fest: "Wer heute einen sofortigen Rückzug fordert, der handelt unverantwortlich", sagt sie in ihrer Regierungserklärung. Den Soldaten und ihren Angehörigen spricht Merkel ihr Mitgefühl aus und kündigt an, auch an der nächsten Trauerfeier teilzunehmen.

"Was mit unseren Soldaten geschehen ist, hat im Mittelpunkt unseres öffentlichen Andenkens zu stehen": Merkel im Bundestag.
(Foto: dpa)
Bundeskanzlerin Angela Merkel hält trotz der schweren Verluste der Bundeswehr in Afghanistan am Einsatz fest. "Wer heute einen sofortigen Rückzug fordert, der handelt unverantwortlich", sagte Merkel in ihrer Regierungserklärung vor dem Bundestag. Nicht nur würde Afghanistan in Chaos und Anarchie versinken, auch die Folgen für die internationale Gemeinschaft und die Bündnisse, in denen Deutschland Verantwortung trage, wären unabsehbar.
"Es wäre (...) ein Trugschluss zu glauben, Deutschland wäre nicht im Visier des internationalen Terrorismus", erklärte die Bundeskanzlerin. Die Folgen eines Abzugs wären "weit verheerender als die Folgen der Anschläge vom 11. September 2001". So würde die Gefahr erheblich steigen, dass Nuklearmaterial in die Hände extremistischer Gruppen gelange.
Merkel würdigte in ihrer Rede die bei Gefechten und Anschlägen getöteten Bundeswehr-Soldaten. "Die im Einsatz gefallenen Soldaten, derer wir heute gedenken, haben der Bundesrepublik Deutschland treu gedient", sagte die Kanzlerin. Sie hätten "den höchsten Preis" gezahlt, um ihre Mitbürger in Deutschland vor möglichen Terroranschlägen zu schützen.
Verständnis für "Krieg"
Merkel äußerte Verständnis dafür, dass die meisten Soldaten das, was sie täglich in Afghanistan erlebten, als "Bürgerkrieg" oder "Krieg" bezeichneten. Die Einstufung des Einsatzes der Bundeswehr im Norden Afghanistan als "bewaffneten Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts" verharmlose aber nicht dessen Gefahren: "Niemand von uns verharmlost das Leid, das der Einsatz bei den Soldaten und ihren Familien, aber auch bei den Angehörigen ziviler afghanischer Opfer auslöst."
Am Donnerstag vergangener Woche waren vier deutsche Soldaten getötet worden, zuvor starben am Karfreitag drei Bundeswehrsoldaten. In der größten Oppositionspartei SPD mehren sich seither die Stimmen, die einen Rückzug aus Afghanistan fordern.
Merkel wird am Samstag an der Trauerfeier für die vier in Afghanistan getöteten Soldaten teilnehmen. Sie werde gemeinsam mit Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg und Außenminister Guido Westerwelle in Ingolstadt sein, sagte sie in ihrer Rede. Die Trauerfeier für die Soldaten soll im Münster von Ingolstadt stattfinden. Eine Rede Merkels ist nach Angaben aus Regierungskreisen aber nicht geplant.
Westerwelle fährt zur Kabul-Konferenz
In ihrer Regierungserklärung kündigte Merkel zudem an, dass Westerwelle in Kabul an einer Konferenz teilnehmen werde, auf der die Beschlüsse der Londoner Afghanistan-Konferenz vom Januar dieses Jahres überprüft werden sollen.
Die Kanzlerin räumte auch Fehler im Zusammenhang mit dem Afghanistan- Einsatz in den vergangenen Jahren ein. "Es gab manche Fortschritte, es gab zu viele Rückschritte, und unsere Ziele waren zum Teil unrealistisch hoch oder sie waren zum Teil falsch." Merkel wies auf die neue Afghanistan-Strategie zur schnellen Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen hin. "Unser Einsatz ist nicht auf Dauer angelegt, aber auf Verlässlichkeit." Das Land zu einer Demokratie nach westlichem Vorbild machen zu wollen, wäre zum Scheitern verurteilt.
Gabriel kritisiert unklare Sprache
SPD-Chef Sigmar Gabriel warnte in seiner Antwort auf die Rede der Kanzlerin die Bundesregierung vor "Kriegsrhetorik" im Zusammenhang mit dem Afghanistan-Einsatz. "In Wahrheit löst der Kriegsbegriff keines unserer Probleme", sagte er. "In einer so elementaren Frage müssen wir Politiker mehr sein als ein Echolot öffentlicher Gefühle."
Gabriel warf der Bundesregierung vor, keine klare Haltung zum Kriegsbegriff zu haben. Während Verteidigungsminister Guttenberg von einem Krieg spreche, vertrete Außenminister Westerwelle die Auffassung, dass es sich nicht um einen Krieg handele. "Ich stimme dem Bundesaußenminister ausdrücklich zu", sagte der SPD-Vorsitzende. Er forderte die Bundeskanzlerin auf, für eine einheitliche Sprachregelung in der Regierung zu sorgen.
"Sie brauchen auch einen"
Der FDP-Abgeordnete Martin Lindner erhielt während der Debatte eine Rüge für eine Beleidigung des Linksfraktionschefs Gregor Gysi. Gysi hatte die mangelhafte psychologische Betreuung der Soldaten kritisiert. "Sie haben für 4500 Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan einen einzigen Facharzt für Psychiatrie zur Verfügung gestellt", sagte Gysi an die Adresse der Bundesregierung. Daraufhin rief Lindner: "Sie brauchen auch einen."
Gysi forderte erneut den sofortigen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Die Begründungen für den Einsatz bezeichnete er als unzureichend: "Wir alle wissen, man kann Terrorismus nicht mit Krieg bekämpfen."
Der Grünen-Fraktionsvorsitzende Jürgen Trittin kritisierte, Merkel sei die Antwort schuldig geblieben, wofür die Soldaten in Afghanistan den Kopf hinhielten. Mit dem im Februar verabschiedeten Bundestagsmandat habe sich der Einsatz auf die "Rutschbahn der offensiven Aufstandsbekämpfung" begeben, die für die Soldaten erhebliche Risiken berge. Trittin spielte damit auf das Konzept des sogenannten Partnering an, das gemeinsame Einsätze deutscher und afghanischer Soldaten im Gelände vorsieht.
Quelle: ntv.de, tis/AFP/dpa