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Bayern Sitzenbleiben abschaffen? Was dagegen spricht und was dafür

Über 40.000 Schülerinnen und Schüler in Bayern drehten zuletzt eine Ehrenrunde. Eine wichtige pädagogische Maßnahme, finden die einen. Verlorene Zeit und rausgeschmissenes Geld die anderen. Warum?

München (dpa/lby) - Fast jeder vierte Schüler in Deutschland hat im Alter von 15 Jahren bereits einmal eine Klasse wiederholt. Bundesweit besonders weit vorn: Bayern. Am Dienstag wollen die Grünen im Landtag einen Antrag stellen, das Sitzenbleiben im Freistaat abzuschaffen. Die Erfolgsaussichten liegen zwar bei null, dennoch können sich die Grünen auf gute Argumente stützen. Die Deutsche Presse-Agentur fasst alles Wichtige um die "Ehrenrunde" zusammen:

Über wie viele Schülerinnen und Schüler sprechen wir überhaupt? 

Im Schuljahr 2024/25 wiederholten - ohne FOS/BOS - fast 40.000 Kinder und Jugendliche in Bayern die Klasse. Rund 17.000 von ihnen hatten keine andere Wahl, 23.000 wiederholten freiwillig. In den Daten sind die Fach- und Berufsoberschulen noch nicht enthalten; im Vorjahr wiederholten dort rund 3.300 Jugendliche. 

In Summe drehten damit 3,5 Prozent aller Schülerinnen und Schüler im Schuljahr 2023/24 eine Ehrenrunde. Der bundesweite Schnitt lag bei 2,2 Prozent, Bayern belegte Rang zwei. Im Vorjahr war der Freistaat laut Statistischem Bundesamt gar der Spitzenreiter mit 4,1 Prozent. 

Wann bleibt man in Bayern sitzen? 

In der ersten und zweiten Klasse wird das Sitzenbleiben möglichst vermieden, danach müssen in der Grundschule schon Fünfer und Sechser in Mathe, Deutsch oder Heimat- und Sachunterricht zusammenkommen. In der Realschule und auf dem Gymnasium steht im Grundsatz eine Wiederholung an, wenn in einem Vorrückungsfach eine Sechs oder in zwei Vorrückungsfächern eine Fünf im Zeugnis steht. Dies gilt auch für die Mittlere-Reife-Klassen an den Mittelschulen. 

Ansonsten ist auf der Mittelschule ein Wiederholungsjahr zwingend, wenn die Durchschnittsnote aus allen Fächern außer Sport schlechter als 4,00 ist oder in mindestens vier Fächern die Note Fünf erzielt wurde. Unter bestimmten Voraussetzungen ist in Bayern allerdings auch ein Vorrücken auf Probe, ein Notenausgleich oder eine Nachprüfung möglich. Zudem können Kinder und Jugendliche freiwillig eine Klassenstufe wiederholen. 

Was spricht für das Wiederholen einer Klassenstufe?

Das Sitzenbleiben soll als "zweite Chance" dienen, den verpassten Stoff nachzuholen. "Für einige Schüler und Konstellationen kann es sinnvoll sein, um Kompetenzen zu erwerben und sich für das nächste Schuljahr fit zu machen", erläutert Kai Maaz vom Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation. "Etwa wenn ein Kind wegen einer Krankheit einen großen Teil des Schuljahres verpasst hat, also nicht nur in einem Bereich große Rückstände aufgebaut hat." 

Das Nichterreichen des Klassenziels könne darüber hinaus ein wichtiger Hinweis sein, einen Wechsel auf eine passendere Schulart in Erwägung zu ziehen, ergänzt das bayerische Kultusministerium. Schließlich würden die Schulen bei Schwierigkeiten zuvor durch entsprechende Fördermaßnahmen, wie Intensivierungsstunden, Ergänzungs- und Förderunterricht gegensteuern. 

Viele Befürworter auch unter den Lehrkräften betonen allerdings vor allem, dass die drohende Ehrenrunde ein wichtiges Instrument zur Motivation sei. Gerade die Faulen würden sonst einen Freifahrtschein erhalten und das Lernen gänzlich einstellen. Dadurch würden sie den Anschluss verlieren, besonders in Fächern, in denen die Inhalte aufeinander aufbauen. 

Was spricht gegen das Wiederholen einer Klassenstufe? 

"Es spricht eigentlich nichts dafür und alles dagegen", resümiert der Experte für pädagogische Psychologie von der Hochschule für Gesundheit und Medizin
in Berlin, Florian Klapproth. Zahlreiche Studien belegten, dass Verbesserungen höchstens kurzfristig seien, die Nachteile dagegen schwer wiegen. Klapproth stützt sich wie andere Kritiker des Sitzenbleibens auf mehrere Argumente: 

Wirkung verpufft bald wieder 

Die Schulnoten verbessern sich zwar häufig im Wiederholungsjahr. Allerdings verpufft die positive Wirkung bereits ein Jahr später. "Auch wenn Klassenwiederholungen in Einzelfällen hilfreich sein können, zeigen Studien insgesamt keine nachhaltigen positiven Wirkungen", betont Maaz. 

Wiederholen verfestigt Bildungsungerechtigkeit 

Studien belegen, dass auch leistungsfremde Faktoren die Entscheidung von Lehrkräften beeinflussen, ob wiederholt werden muss. So bleiben Jungen bei gleicher Leistung häufiger sitzen als Mädchen, ebenso Schülerinnen und Schüler, deren Eltern ein geringes Einkommen haben oder die einen Migrationshintergrund besitzen. 

Kinder mit ausländischen Wurzeln etwa wiederholen in Bayern besonders häufig eine Klasse: Obwohl sie nur 28,5 Prozent der Schülerschaft ausmachen, stellten sie im Schuljahr 2023/2024 fast 40 Prozent der Wiederholer, betonen die Landtags-Grünen. "Dieses Missverhältnis zeigt, dass soziale Herkunft und Bildungsungerechtigkeit weiterhin untrennbar verbunden sind." 

Negative Folgen für Motivation und Selbstwert 

Sitzenbleiben kann sich negativ auf die Psyche auswirken. "Es stempelt die Kinder ab, es demotiviert, weil sie das Gefühl haben, sie sind nichts wert. Auch wenn sie sich angestrengt haben, haben sie die Erwartungen nicht erfüllt. Das kann bis zu Depressionen führen", schildert der Vorsitzende des Bayerischen Elternverbands, Martin Löwe. Zudem werde das Kind aus dem gewohnten Umfeld gerissen, was Unsicherheit schüren könne. 

Zudem haben die Betroffenen in der Regel ja nur in einigen Fächern Schwierigkeiten. "Das Problem ist, dass das Extra-Jahr in Deutschland praktisch mit keinen weiteren Fördermaßnahmen versehen ist. Das heißt, die Kinder bekommen einfach das gleiche noch mal", schildert Klapproth. "Das führt dazu, dass sie sich in den Fächern, in denen sie gut waren, langweilen, und in den Fächern, in denen sie schlecht waren, nichts dazulernen." 

Sitzenbleiben kostet den Steuerzahler viel Geld 

Nach den jüngsten Daten für 2023 gab Bayern 11.300 Euro pro Schüler aus. Die zusätzlichen Jahre durch verpflichtendes und freiwilliges Wiederholen summieren sich somit auf rund 490 Millionen Euro - das Geld, das dem Staat wie den Betroffenen durch den späteren Berufseinstieg entgeht, nicht eingerechnet. 

Was wären die Alternativen? 

"Kinder und Jugendliche lernen am besten, wenn ihre Stärken gesehen und entwickelt werden und wenn auf die professionelle differenzierte Diagnose von Lernschwächen eine zielgenaue individuelle Förderung folgt", betont die Vorsitzende des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands, Simone Fleischmann. 

Auch Wissenschaftler Maaz betont: "Kompensatorische Maßnahmen im Laufe des Schuljahres sind effektiver als das Wiederholungsjahr - wenn sie zielgenau adressiert werden." Leistungsschwache Schülerinnen und Schüler benötigten andere Lernzugänge statt mehr vom Gleichen. "Wir bräuchten eine Verknüpfung zwischen individueller datenbasierter Lernverlaufsdiagnostik und einer innovativen, qualitätsgesicherten Infrastruktur, die den Lehrkräften auf Grundlage der Förderdiagnose Fördermaterialien anbieten." 

Dass es anders geht, zeigt der Blick über die (Landes-)Grenze: Hamburg zum Beispiel setzt auf eine kostenlose, verpflichtende Lernförderung statt auf Sitzenbleiben. In Berlin finden Jahrgangsstufenwiederholungen bis zur zehnten Klasse nur in besonders begründeten Ausnahmefällen statt. Und innerhalb Europas lassen nur Belgien, Holland und Spanien häufiger wiederholen als Deutschland. In allen anderen Ländern ist es deutlich seltener oder kommt wie in Skandinavien gar nicht oder höchstens in Ausnahmefällen vor.

Quelle: dpa

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