Erdogan ruft "Sieg" gegen Demonstranten aus Hunderte Türken üben stillen Protest
19.06.2013, 03:43 Uhr
Den Blick fest auf Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk gerichtet stehen Hunderte Türken in stillem Protest auf dem Taksim-Platz.
(Foto: REUTERS)
Ein türkischer Choreograph verharrt als "Stehender Mann" stundenlang auf dem Istanbuler Taksim-Platz - und initiiert so eine neue Protestform, die auf Anhieb Hunderte Nachahmer findet. Vor Mitgliedern seiner Partei lässt sich Ministerpräsident Erdogan derweil bereits als "Sieger" über den "Komplott" von "Verrätern" feiern.
Dem stillen Protest in Istanbul schließen sich immer mehr Demonstranten an. Auf dem zentralen Taksim-Platz in der türkischen Metropole waren am Dienstagabend mehrere hundert schweigende Menschen versammelt, wie Augenzeugen berichteten. Sie protestierten gegen die aus ihrer Sicht autoritäre Regierung und die Polizeigewalt der vergangenen Tage. Am Nachmittag waren es einige Dutzend Menschen gewesen. Ein türkischer Choreograph, der in der Nacht zu Dienstag als "Stehender Mann" stundenlang auf dem Taksim-Platz verharrte, hatte die neue Protestform initiiert.
Die Demonstranten richteten ihren Blick auf das zum Abriss vorgesehene Atatürk-Kulturzentrum und ein daran angebrachtes Porträt des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk. Eine in schwarz gekleidete junge Frau hielt in einer Hand eine leere Tränengaspatrone, in der anderen das türkische Strafgesetzbuch. Andere Demonstranten hatten sich in türkische Flaggen gehüllt. Die Polizei, die in den vergangenen Tagen massiv Tränengas eingesetzt hatte, hielt sich zunächst im Hintergrund. Allerdings standen Wasserwerfer bereit.
Zuvor hatte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan vor Mitgliedern seiner Partei AKP den "Sieg" über die Demonstranten ausgerufen. "Unsere Demokratie hat erneut auf dem Prüfstand gestanden und sie hat gesiegt", sagte er. Die Regierung habe gemeinsam mit dem türkischen Volk das "Komplott" aufgedeckt, das von "Verrätern" zusammen mit "ausländischen Komplizen" geschmiedet worden sei, sagte Erdogan unter tosendem Applaus. Ab sofort werde es "keinerlei Toleranz" mehr geben für "Menschen oder Organisationen, die Gewalt anwenden".
Auch TV-Sender und Zeitung durchsucht
Erdogans Regierung ging indessen weiter mit Razzien gegen Regierungsgegner vor. Etwa 90 Mitglieder der an den Protesten beteiligten Sozialistischen Partei der Unterdrückten (ESP) seien in ihren Wohnungen festgenommen worden, teilte die Istanbuler Staatsanwaltschaft mit. In der Hauptstadt Ankara gab es nach Informationen des Senders NTW 30 Festnahmen, in der Stadt Eskisehir im Nordwesten 13. Die Anwaltsvereinigungen in Istanbul und Ankara gaben an, bei den großen Polizeieinsätzen vom Sonntag seien mehr als 500 Demonstranten festgenommen worden.
Neben der ESP, die bei den wochenlangen Protesten gegen die islamisch-konservative Regierung Erdogans aktiv war, wurden laut Berichten der Fernsehsender NTV und CNN-Türk auch die Büros der Zeitung "Atilim" und der Nachrichtenagentur Etkin durchsucht. Beide stehen der Partei nahe.
Laut Innenminister Muammer Güler richtete sich der "seit einem Jahr vorbereitete" Polizeieinsatz gegen die "terroristische Organisation" Marxistisch-Lenistische Kommunistische Partei, die an den Protesten im Gezi-Park beteiligt war. Die Polizei hatte am Samstag unter massivem Gewalteinsatz den seit Wochen von Demonstranten besetzten Istanbuler Park geräumt. Angesichts anhaltender Proteste drohte Vize-Ministerpräsident Bülent Arinc am Montag mit dem Einsatz des Militärs.
Riexinger gegen EU-Beitritt der Türkei
Die Linke sprach sich gegenüber n-tv.de im Lichte der Ereignisse in der Türkei gegen einen derzeitigen Beitritt des Landes zur EU aus. Parteichef Riexinger sagte: "Ein Land, das Menschenrechte und demokratische Freiheiten mit Füßen tritt, kann nicht in der EU sein. Ich denke, die Beitrittsverhandlungen sollten auf Eis gelegt werden, solange der Verhandlungspartner Erdogan heißt." In den Augen Riexingers hat Erdogan "alle roten Linien überschritten". In der Türkei drohe eine Militärdiktatur durch die Hintertür. Riexinger forderte, dass Außenminister Guido Westerwelle den türkischen Botschafter einbestellt und offiziell protestiert.
Auch die Türkische Gemeinde in Deutschland forderte eine Aussetzung der EU-Beitrittsverhandlungen. Ihr Vorsitzender Kenan Kolat sagte im Deutschlandfunk, solange die Regierung in Ankara sich nicht mit den Protesten auseinandersetze "und diese Form der Gewalt weiterführt", sollte die EU "abwarten mit der Eröffnung von weiteren Kapiteln". Es sei "wichtig, dass die Regierung hier noch mal ein Zeichen bekommt". Die Türkei führt seit Oktober 2005 Beitrittsgespräche mit der EU, doch kommen die Verhandlungen kaum voran.
Der türkischstämmige Reiseunternehmer Vural Öger warf Erdogan Realitätsverlust vor. "Erdogan befindet sich in einer Art Machteuphorie", sagte Öger der "Hamburger Morgenpost". Der Regierungschef sei in den vergangenen zwei Jahren immer autoritärer geworden und verstehe nicht, was die jungen Leute bewege. Es gehe längst nicht mehr um den Gezi-Park, sondern "gegen seinen autoritären und paternalistischen Führungsstil".
Quelle: ntv.de, jve/dpa/AFP