Ukraine im Ost-West-Konflikt Wie weiter und wer gegen wen?
22.02.2014, 08:20 Uhr
Mit weniger als einem vollständigen Sieg will "der Maidan" sich offenbar nicht zufrieden geben.
(Foto: AP)
Im Kompromiss vom Freitag haben Regierung und die Opposition sich darauf geeinigt, die Macht des Präsidenten durch eine Rückkehr zur Verfassung von 2004 zu beschneiden. Bis spätestens Dezember soll es Neuwahlen geben.
Ist jetzt alles gut?
Ganz sicher nicht. Auf einen Schlag lösbar ist weder der innerukrainische Konflikt noch der Streit zwischen Europa und Russland um die Ukraine. Das Land steht im besten Fall vor einem Wahlkampf, der die Politikfähigkeit der bisherigen Opposition auf die Probe stellen wird. Dass Vitali Klitschko und Co. diese Probe bestehen, ist alles andere als ausgemacht.
Viel wird davon abhängen, ob die radikalen Kräfte am Maidan Ruhe geben. Danach sieht es derzeit nicht aus: Am Freitagabend wurde Klitschko auf dem Platz ausgebuht, als er den Kompromiss erläuterte. Am Morgen verkündet das Protestlager, die "Selbstverteidigungskräfte" des Maidan hätten die Kontrolle über Parlament, Regierungssitz und Präsidialkanzlei übernommen. n-tv Korrespondent Jürgen Weichert berichtet, die Sicherheitskräfte hätten ihre Stellungen geräumt.
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Ist Präsident Viktor Janukowitsch denn zu trauen?
Auf keinen Fall, im Gegenteil: Die Toten vom 20. Februar, die aus dem Hinterhalt von seinen Scharfschützen erschossen wurden, sind ein klares Zeichen dafür, dass Janukowitsch alles zuzutrauen ist.
Es gab zwar Gerüchte, Janukowitsch sei in die Vereinigten Arabischen Emirate geflogen, doch wahrscheinlich hält er sich im ostukrainischen Charkow auf, einer Hochburg seiner Partei der Regionen. Klar ist: Das Abkommen vom Freitag kann ein Schachzug sein, um Zeit zu gewinnen.
Wenn Janukowitsch nicht zu trauen ist, warum lässt sich die Opposition dann auf das Abkommen mit ihm ein?
Der Opposition bleibt nichts anderes übrig. Immerhin ist durch die Einigung vom Freitag ein Bürgerkrieg und damit eine "jugoslawische Lösung" vorerst unwahrscheinlich geworden.
Das Problem ist zudem nicht nur Janukowitsch, sondern auch das Misstrauen gegen ihn. Bereits Ende Januar hatte der Präsident der Opposition eine Beteiligung an der Regierung angeboten, sogar Ministerpräsident hätte Arseni Jazenjuk, Fraktionschef der Vaterlandspartei im ukrainischen Parlament, werden können. Doch Jazenjuk wollte nicht - was möglicherweise auch daran lag, dass Klitschkos Partei Udar nicht bereit war, in eine Übergangsregierung einzusteigen. Beide mussten fürchten, bei Wahlen die Quittung für ihre Zusammenarbeit mit Janukowitsch zu bekommen. Nun müssen sie fürchten, von Janukowitsch über den Tisch gezogen zu werden. Aber, wie gesagt: Die Alternative wäre weiteres Blutvergießen gewesen.
Wer steht in der Ukraine eigentlich gegen wen?
Seit November 2013 steht auf dem Maidan eine relativ bunt gemischte Menge gegen die Regierung. Politisch werden die Demonstranten von der parlamentarischen Opposition vertreten: der Vaterlandspartei der inhaftierten Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, Klitschkos Udar ("Schlag") und der rechtsnationalen Swoboda-Partei. Keine dieser drei Parteien genießt das uneingeschränkte Vertrauen des Maidan. "Sie sind nicht nur misstrauisch gegenüber der Regierungspartei, sie sind misstrauisch gegenüber der gesamten Politik", sagt die in der Ukraine geborene Piratenpartei-Politikerin Marina Weisband über die Demonstranten.
Hintergrund der aktuellen Krise ist der innere Ost-West-Konflikt, unter dem die Ukraine leidet. Viele Bewohner der Regionen im Osten und Süden sprechen Russisch und sind auch stark Richtung Russland orientiert. In den Regionen im Westen und Norden spricht man eher Ukrainisch und orientiert sich an der EU. Allerdings wäre es falsch anzunehmen, das Land sei entlang einer klar definierbaren geografischen Linie gespalten. Eine Teilung des Landes würde die Probleme nicht lösen.
Was wollen die Menschen auf dem Maidan eigentlich?
Klar ist, dass die Demonstranten den sofortigen Rücktritt von Janukowitsch wollen. Deshalb ist offen, ob sie die von der EU vermittelte Einigung akzeptieren werden. Der Chef der ukrainischen Caritas formulierte es Ende Januar, bevor die massive Welle der Gewalt losbrach, so: "Das alles sind Leute, die sagen: Wir wollen nicht so weiterleben wie bisher, wir wollen eine Zukunft haben, wir wollen einen europäischen Weg für die Ukraine." Nur, wie soll dieser Weg aussehen? Der Maidan wird zwar vertreten durch den sogenannten Maidan-Rat, aber einen wirklichen politischen Arm hat er nicht. Der Bewegung fehlt eine politische Spitze, die Kompromisse aushandeln und annehmen kann.
Russische Regierungsvertreter sagen, die Protestbewegung sei von "Faschisten" unterwandert, auch einzelne Politiker der Linken in Deutschland haben sich entsprechend geäußert. Die grüne Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck, die sich unlängst in Kiew aufhielt, weist das zurück. "Es gibt rechte Kräfte auf dem Maidan", räumt sie ein. Die bewegten sich aber am Rand des Platzes. "Und wenn es hier eine Radikalisierung gibt, dann haben das die zu verantworten, die nicht bereit waren, sichtbare Kompromisse anzubieten."
Was sind Russlands Interessen in Kiew?
Russland will die Ukraine so eng wie möglich an sich binden. Das entspricht der sogenannten Putin-Doktrin, die vorsieht, den russischen Einfluss auf möglichst viele Länder der ehemaligen Sowjetunion zu sichern.
Entsprechend wütend reagierte die russische Regierung auf die Maidan-Bewegung und die pro-westliche Opposition. Wenn es der Opposition gelänge, die Regierung zu übernehmen, würde dies für Chaos und eine Spaltung der Ukraine sorgen, sagte Russlands UN-Botschafter Witali Tschurkin in einem Interview mit CNN voraus, "und diese radikalen Strömungen würden Europa anstecken". Es sei höchste Zeit, dass die USA und Europa auf der Basis von politischen Prinzipien handeln statt in einem "geopolitischen Interesse, das sie möglicherweise haben".
Hat die EU denn auch geopolitische Interessen in der Ukraine?
Natürlich hat sie die. Das gescheiterte Assoziierungsabkommen mit der Ukraine war nicht als Entwicklungshilfe gedacht, sondern durchaus im Interesse der EU. Die Ukraine mag ein armes Land sein, mit 46 Millionen Einwohnern ist sie ein interessanter Markt. Die Ukraine grenzt außerdem nicht nur an Russland, sondern auch an vier EU- und Nato-Staaten. Tschurkin hat recht: Ein starker russischer Einfluss unmittelbar an der östlichen Außengrenze der Europäischen Union und der Nato ist nicht im Interesse Europas und der USA.
Bis zur Eskalation des Konflikts haben sich die meisten EU-Mitgliedsstaaten den offiziellen Verlautbarungen aus Brüssel zum Trotz nicht sonderlich für die Ukraine interessiert. Russland hatte leichtes Spiel, mit dezenten Warnungen und offenen Drohungen dafür zu sorgen, dass Janukowitsch das Abkommen mit der EU nicht unterzeichnete. Ein wirkliches diplomatisches Konzept, mit der die EU auf das russische Muskelspiel hätte antworten können, gab es nicht. Ulrich Speck vom außenpolitischen Thinktank Carnegie Europe schreibt, die EU sei gut bei "postmodernen" Themen, aber schlecht bei "robusteren" Aufgaben, die den Einsatz klassischer staatlicher Macht erfordern. Genau das war in Kiew zuletzt zu besichtigen.
Quelle: ntv.de