Rau, unbearbeitet, oft monströs "Sichtbeton macht noch keinen Brutalismus"
26.03.2023, 10:44 Uhr
Abreißen oder anders nutzen? Um den "Mäusebunker" in Berlin wurde lange gerungen.
(Foto: picture alliance / Bildagentur-online/Joko)
Sie sind kaum zu übersehen und wirken manchmal ein wenig unheimlich: Brutalistische Betonbauten polarisieren. Einige von ihnen sind vom Abriss bedroht. Warum sie gerettet werden sollten, darüber spricht Anette Busse im Interview mit ntv.de. Außerdem erklärt die Architekturhistorikerin, was genau den Baustil kennzeichnet und warum es sie reizen würde, selbst in einem Brutalismus-Bau zu wohnen.
ntv.de: In den vergangenen Jahren hat der Brutalismus auf Instagram und Co. ein kleines Comeback erlebt. Was genau macht die Faszination für die Betrachter und Betrachterinnen aus?
Anette Busse: Dass wir etwas in diesen Gebäuden erkennen können, dass sie eine starke räumliche und visuelle Präsenz in ihrer Formensprache und in der unmittelbaren Rohheit ihrer Materialien haben. Damit sprechen sie uns im Negativen wie im Positiven an.
Was für Kriterien muss ein Gebäude erfüllen, damit es als brutalistischer Bau gilt?
Das Wichtigste ist, dass die Materialien, die zum Bau verwendet wurden, roh gezeigt werden, also nicht weiterverarbeitet, verdeckt oder beschönigt werden. Man kann zumeist von außen ablesen, wie die statischen Kräfte des Gebäudes verlaufen, und seine inneren Funktionen können in den Fassaden nachvollzogen werden.
Viele gigantische Beton-Wohnkomplexe, die symbolisch für prekäre Lebensverhältnisse stehen, gelten ja als brutalistisch, sind es oft aber gar nicht. Können Sie das erklären?
Sichtbeton allein macht noch keinen Brutalismus aus. Brutalismus hat ganz viel mit der Haltung der Architekt*innen zu tun, die sich vor allem im Zeigen des unbearbeiteten Materials und der Funktionen nach außen manifestiert und damit eine wahre und echte Architektur in einer begreiflichen, ablesbaren Gestalt präsentiert. Ähnlich wie eine Haut, die sich über ein Knochengerüst spannt, das damit nicht sichtbar, aber nachvollziehbar wird. Viele Beton-Wohnkomplexe sind Großwohnsiedlungen und Trabantenstädte, vor allem aber sind sie Massenwohnungsbau. Viel Wohnraum wurde dort in kurzer Zeit geschaffen, indem wenige Grundmotive immer wieder kopiert und gleichförmig wiederholt wurden. Auch da sieht man, wo sich welche Funktion befindet, aber sie sind eben nicht aus dem brutalistischen Gedanken heraus entstanden, der diese addierten, gleichförmigen Elemente nicht zulassen würde.
Könnten Sie sich vorstellen, selbst in einem brutalistischen Bau zu wohnen?
Wenn er eine überzeugende Gestaltung hat, ja, natürlich!
Was genau würde Sie daran reizen?
Man würde spüren, dass das Bauwerk für diese eine bestimmte Funktion gebaut wurde und auch die Räume dieser bestimmten Funktion in spezifischer Weise angepasst wurden. Außerdem ist Beton ein wunderbarer Baustoff und ich gehe davon aus, dass mein Gebäude ein Betongebäude wäre. Wenn es gut gepflegt ist, hält dieses Material sehr lange. Und ich mag diese Farbigkeit des Betons. Durch das Mischen und Gießen entwickelt sich eine spezifische Wolkenbildung, es gibt eine sehr lebendige Oberfläche und unterschiedliche Grautöne, ich sehe da eine starke Tiefe drin und finde es wunderbar, das anzuschauen.
Die meisten Menschen verbinden Brutalismus ja auch mit Beton.
Aber es muss gestalteter Beton sein. Brutalistische Gebäude zeichnen sich vor allem durch sehr lebendige Oberflächen aus, die immer eine gestaltete Struktur haben. Deswegen auch "béton brut" (französisch für rohen Beton, Anm. der Red.). Es war damals eine sehr wichtige Sache, dass der Beton als rauer und unbearbeiteter Beton sichtbar wird. Es gibt aber auch sehr viele Mauerwerksbauten und einige Natursteinbauten, die brutalistisch sind. Das Wichtige ist, dass wir immer diese Spuren des Machens, den Prozess, wie dieses Gebäude entstanden ist, auch die innere Struktur nachvollziehen können.
Manche der Gebäude wirken in ihrer Monumentalität auch etwas unheimlich.
Die brutalistische Einstellung hat keine Angst vor großen Flächen, weil sie immer irgendwie gestaltet waren. Manchmal kommen diese großen Flächen natürlich auch sehr heftig daher. Wir haben das Phänomen, dass der Brutalismus vor allem in der späteren Zeit, ab Mitte der 1960er-Jahre, unglaublich stark durch öffentliche Bauten verkörpert wurde. Universitätsgebäude, Bibliotheken und Rathäuser sind immer große Gebäude, die häufig eine enorme Präsenz im Stadtraum haben.
Es gibt auch die Auffassung, dass Brutalismusbauten einfach nur hässlich sind, der Vergangenheit angehören und abgerissen werden sollten. Sie selbst sind Teil des Projekts #SOSBrutalism und vertreten daher eine andere Meinung.
Rein aus ästhetischen, aber auch aus energetischen Gründen können wir uns Abrisse volkswirtschaftlich auf die Dauer nicht leisten. Der Abbruch eines Gebäudes ist die Vernichtung von Energie und CO2, denn das CO2, das gebunden ist, wird freigesetzt und weiteres durch Ersatzneubauten mit erneutem Ressourcenverbrauch erzeugt. Wichtig ist, dass der gesamte Lebenszyklus jeder Maßnahme betrachtet wird und nicht nur die Verbrauchskosten eingepreist werden. Deswegen müssen wir einen anderen Umgang mit dem Gebäudebestand finden. Die Wegwerfmentalität, die wir entwickelt haben, sollte so schnell wie möglich ein Ende finden. Jedes Gebäude kann umgebaut, weitergebaut, verändert und auch energetisch ertüchtigt werden, das ist eine jahrhundertealte Tradition. Zudem plädiere ich für die Vielfalt der gebauten Umwelt aus unterschiedlichen Zeiten. Sie macht doch unsere architektonische Umgebung aus. Und je vielfältiger sie ist, desto interessanter und lebenswerter ist sie auch für die Menschen. Ich denke, es ist wichtig, dass wir uns mit den brutalistischen und allen weiteren Bestandsgebäuden viel stärker auseinandersetzen und uns diese durch angemessene Anpassungen aneignen.
Viele der Betonbauten sind inzwischen in die Jahre gekommen, einige stehen leer. Wie genau könnte man die Gebäude Ihrer Meinung nach heute nutzen?
Das kommt natürlich auf die Gegebenheiten an. Brutalistische Gebäude sind sehr unterschiedlich und spezifisch. Es ist eine große Herausforderung, weil brutalistische Gebäude immer auch für eine Funktion gebaut wurden und diese Funktion ja auch nach außen sichtbar wird. Aber es ist möglich, auszuloten, für welche anderen Funktionen sich die gegebene Struktur eignet.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Sehr schön ist gerade in Berlin die Entwicklung der Diskussion um den sogenannten "Mäusebunker" (die "Forschungseinrichtung für Experimentelle Medizin" der Charité, früher "Zentrale Tierlaboratorien", Anm. der Red.), der ursprünglich abgerissen werden sollte. In einem neu entwickelten Modellverfahren des Landesdenkmalamtes Berlin werden nun ganz unterschiedliche Beteiligte vieler Professionen eingeladen, in Werkstattgesprächen über die Möglichkeiten der Weiternutzung zu diskutieren. Und da kommen natürlich unglaublich reichhaltige und variierende Ideen zusammen. Es ist jetzt an uns, diese problematischen Räume in Chancenräume umzudeuten.
Gibt es ein Gebäude, das gerade besonders gefährdet ist?
Ein Gebäude, das abgerissen werden soll, ist der Büroturm des Collini-Centers in Mannheim, das war das Technische Rathaus. Es ist sehr schade, dass es hier keinen intensiveren Prozess gab, bei dem von der Stadt untersucht wurde, wie das Gebäude umgenutzt werden könnte. Stattdessen ist es an einen Investor verkauft worden. Dieser möchte das Gelände besser ausnutzen und deshalb soll das Gebäude zugunsten eines Neubaus fallen.
Welches ist Ihr brutalistisches Lieblingsgebäude?
Das ist ganz schwierig, weil ich sehr viele brutalistische Gebäude extrem spannend finde. Aber ein Gebäude, das mich wirklich sehr fasziniert, ist das Headquarter der "Bank of London and South America" in Buenos Aires, Argentinien.
Was macht es für Sie so besonders?
Die Bank steht mitten in der Stadt in einer historischen Umgebung und passt sich, obwohl es ein monumentales Betongebäude ist, von der Struktur her an die Umgebungsbebauung an. Es ist nicht so ein fremder Klotz, sondern nimmt die Höhe und Kleinteiligkeit auf und entwickelt darüber eine ganz eigene Sprache. Und es tritt auch insofern mit der Umgebung in Beziehung, dass sich im Innern eine große Halle befindet, die als Erweiterung des öffentlichen Raumes gedacht ist. Das finde ich für eine Bank erstaunlich, weil diese ja eigentlich eher Gebäude sind, die sich stärker abschotten und kontrolliert werden wollen.
Werden eigentlich aktuell noch Gebäude im Stil des Brutalismus gebaut?
Ja, es gibt den sogenannten "New, New Brutalism", der in den späten 2000er-Jahren aufgekommen ist und bis heute anhält. Ein schönes Beispiel dafür ist die 2008 fertiggestellte Universität Luigi Bocconi in Mailand von Grafton Architects (das Architekturbüro erhielt 2020 den Pritzker-Preis, Anm. der Red.). Es ist ein sehr großer Gebäudekomplex und hier sind die Funktionen wieder in Bereiche geteilt, sodass man sie sehr gut ablesen kann. Man sieht genau, wo die Aula ist, die in den Stadtraum hineinragt, einerseits ihre Funktion zeigt, andererseits aber auch eine Verbindung von Innen und Außen schafft. Und es gibt einzelne aufgesetzte Kuben, wo man genau sieht: Das sind die Institutsräume, dort finden Lehre und Forschung statt.
Mit Anette Busse sprach Katja Sembritzki
Quelle: ntv.de