Mammutprozess auf Zielgerade Das langsame Verschwinden des Mouhamed Lamine Dramé


Die Gedenktafel in der Dortmunder Nordstadt.
(Foto: Stephan Uersfeld)
Wieso musste Mouhamed Lamine Dramé sterben? Diese Frage wird seit einem Jahr am Dortmunder Landgericht verhandelt. Bald könnte der Prozess um den von fünf Polizeikugeln getöteten 16-jährigen Senegalesen enden. Noch sind viele Fragen offen. Doch die Erinnerung an Dramé verblasst bereits.
An einem Kirchenzaun in der Missundestraße in der Dortmunder Nordstadt hängt eine Gedenktafel. Die Sonne holt sich die Inschrift. Ganz langsam. Buchstabe für Buchstabe. Die Sonne hat Zeit. "Hier starb der junge Senegalese Mouhamed Lamine Dramé am 8. August 2022. Getötet durch die Polizei mit 5 Schüssen aus einer Maschinenpistole", steht auf der Gedenktafel. Dann begann die Sonne ihre ewige Arbeit.
An einem Stromkasten, wenige Meter von der Tafel entfernt, ist eine wilde Müllkippe entstanden. Mal findet sich dort Sperrmüll, mal liegen Perücken auf der Erde. Auf dem Kasten sind letzte Spuren eines Plakats mit dem Konterfeit Dramés zu erkennen.

Anfang November 2024 türmt sich der Müll nur wenige Meter vom Todesort entfernt.
(Foto: Stephan Uersfeld)
Am 8. August 2022 hatte Dramé mit nacktem Oberkörper an einer Kirchmauer in einer Jugendhilfeeinrichtung gelehnt. Er hatte ein Messer auf den eigenen Bauch gerichtet. Eine Kontaktaufnahme mit dem Senegalesen war gescheitert. Dramé war erst wenige Tage in Dortmund. Ein ruhiger, freundlicher Junge, der Familie und Fußball liebte, wird später über ihn gesagt werden. Ein Junge, der am Tag vor seinem Tod eine Klinik aufgesucht hatte. Es ging ihm nicht gut.
Ein Polizeieinsatz eskaliert
An diesem Sommertag stand er nun an der Mauer hinter dem Kirchenzaun in der Missundestraße. Er bewegte sich nicht. Er hörte nichts, als er angesprochen wurde. Auch die von den Mitarbeitern der Einrichtung gerufene Polizei erreichte ihn nicht. Was dann passierte, war fatal und führte dazu, dass in Deutschland erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg fünf Polizisten wegen eines Tötungsdelikts vor Gericht stehen.
Die Lage eskalierte. Dramé starb durch Schüsse aus einer Maschinenpistole. Die Polizisten hatten das getan, was sie zuvor auf einer Einsatzbesprechung abgestimmt hatten. Um den Jugendlichen dazu zu bewegen, das Messer fallen zu lassen, sprühte ihm eine Beamtin Pfefferspray ins Gesicht.
Als sich Dramé aufrichtete und in Richtung der Beamten bewegte, sollte er erst mit zwei Tasern gestoppt werden. Nur 0,7 Sekunden später trafen ihn die Schüsse aus der Maschinenpistole. Der Fall erschüttert die Öffentlichkeit weit über die Stadtgrenzen Dortmund hinaus. "Sie haben ihn getötet wie ein Tier", wird sein Bruder Sidy später vor Journalisten sagen.
Was den Polizisten vorgeworfen wird
Seit Dezember 2023 wird am Dortmunder Landgericht nun verhandelt, wieso Dramé sterben musste. Angeklagt sind insgesamt fünf an dem Einsatz beteiligte Polizisten. Der Schütze ist wegen Totschlags angeklagt, drei anderen Polizisten wird in der Anklage Körperverletzung vorgeworfen, dem Einsatzleiter Anstiftung dazu. Von Beginn an ist die Verteidigungsstrategie auch darauf angelegt, den Einsatz als Notwehr zu deklarieren.
Kurz vor dem Prozessende öffnete das Gericht den Mittelweg zwischen Freispruch und einem harten Urteil. "Was im Kopf des Geschädigten vorging, das wissen wir nicht. Wir wissen nicht, was er dachte, als er sich erhob und mit dem Messer in der Hand in Bewegung setzte", sagte der Vorsitzende Richter Thomas Kelm in der vergangenen Woche. Möglicherweise wollte Dramé die Polizisten tatsächlich mit dem Messer angreifen - möglicherweise aber auch nicht.
"Die Angeklagten könnten sich auch eine Notwehrsituation vorgestellt haben", sagte Kelm weiter. Dafür wurde das Wortungetüm Erlaubnistatbestandsirrtum erdacht: Der Täter geht fälschlicherweise davon aus, dass er angegriffen wird und sein Handeln damit gerechtfertigt ist. In der Realität gibt es einen solchen Angriff - eine Notwehrsituation - aber gar nicht. Liegt ein solcher Erlaubnistatbestandsirrtum vor, kann es zu keiner Verurteilung wegen vorsätzlichen Handelns kommen.
Welche Fragen das Gericht beantworten muss
Damit hat das Gericht entscheidende Fragen zu beantworten: Hatte Dramé diese Polizisten überhaupt bedroht? Mussten die Angeklagten sich verteidigen? Mussten sie dazu Pfefferspray, Taser und Maschinenpistole einsetzen? Mussten sie die Lage überhaupt verändern? Welche individuelle Schuld trifft sie? War ihr Handeln wirklich alternativlos?
Weil das Gericht ebenso wenig in die Köpfe der Angeklagten schauen kann, waren sie sowie unzählige Zeugen befragt worden. Dazu waren Gutachten verlesen worden und dazu hatte es auch außerhalb des Gerichtssaals immer wieder Äußerungen der Angeklagten und der Nebenklage gegeben. Diese vertritt die Familie Dramés. Zwei Brüder wohnen dem Prozess mithilfe von Spendengeldern seit Januar bei.
Sie hörten, wie die Angeklagten ihre Sicht der Dinge schilderten. "Was soll ich statisch halten? Soll ich darauf warten, dass Herr Dramé sich das Messer in den Bauch rammt und dann stehen da zwölf Polizisten rum?", hatte der für den Einsatz verantwortliche Dienstgruppenleiter bei seiner Aussage im April gesagt. Ursprünglich waren für den Prozess zehn Verhandlungstage angesetzt, er hätte im April enden sollen. Früh aber wurde ersichtlich, dass es länger dauern würde. Kommt es nun vor Weihnachten zu einem Urteil, werden es mehr als dreimal so viel Verhandlungstage gewesen sein.
True Crime bereits während des Prozesses
Während der Prozess sich über den EM-Sommer schleppte, wurden die Angeklagten immer offensiver. Der WDR veröffentlichte einen "True Crime"-Podcast über den Fall Dramé. Unter anderem dort äußerte sich der Todesschütze Fabian S. noch während des laufenden Prozesses.
"Im Interview hören wir den Schützen exklusiv", hieß es über diesen ungewöhnlichen Vorgang in der Ankündigung des WDR. Dort schildert S. seine Gefühlslage und spricht von der Belastung auch für ihn. Vor Gericht erklärt er bereits vorher: "Ich möchte nicht wissen, wie man sich fühlt, wenn man einen Angehörigen auf solche Art verliert. Ich erwarte nicht, dass man mir glaubt - aber es tut mir sehr leid."
Im November 2024 sind auf der Gedenktafel am Kirchenzaun in der Missundestraße die ersten beiden Zeilen kaum noch zu lesen. Bald schon wird die Inschrift ganz verschwunden sein. Die Erinnerung an das Leben und Sterben von Mohamed Lamine Dramé verblasst. Ab Montag werden am Dortmunder Landgericht zunächst weitere Zeugen gehört. Dann stehen die Schlussplädoyers an. Ein Urteil könnte am 12. Dezember fallen.
Quelle: ntv.de