Alles, was man sonst nicht darf Noura Dirani trainiert die Fantasiemuskeln


Mit Licht und Sound von Tatjana Busch kommt das Publikum zur Ruhe.
(Foto: Felix König)
Hüpfend Bilder betrachten, Wände bemalen, Kunst anfassen, verändern oder herumtragen? Verboten! Normalerweise. In Lübeck dürfen Sie das: Noura Dirani versetzt Menschen mit Trampolinen, Bauklötzen und frischen Ideen ins Staunen.
Denken Sie nicht auch manchmal, wenn Sie vor einem Kunstwerk stehen, dass Sie es gerne anfassen würden? Das Metall, das Glas spüren? Oder dass Sie es gar umstellen wollen, an einen (noch) besseren Platz? Oder dass Sie, wenn Sie nur dürften, mit einem Pinselstrich, mit einem Handgriff, noch mehr Pepp in die Sache bringen könnten? Tja, das geht. In Lübeck: Denn dort gibt es nicht nur Marzipan, das Holstentor, unzählige historische Häuser und sieben Kirchentürme, sondern auch ein Museum, in dem Sie gestalten dürfen. Okay, die Mona Lisa hängt da nicht, aber Sie könnten in der UNESCO-Weltkulturerbe-Stadt mitmachen. Denn Kunst zum Mitmachen ist derzeit in der Kunsthalle St. Annen angesagt. Hier können Kunstwerke angefasst oder mit gefärbten Eiswürfeln und 1000 Stiften mitgestaltet werden.

Museumsdirektorin Noura Dirani stellt mit ihrer aktuellen Ausstellung das Prinzip Museum auf den Kopf.
(Foto: Kunsthalle St. Annen)
Künstlerinnen und Künstler laden mit Selbstgekochtem zum Essen. Diese Dinner, aber auch Partys und Konzerte, sind für Museumsförderer und Bedürftige gedacht. Es wird gut gemischt eingeladen und genau geschaut, wer kostenfrei genießen darf. "Über Essen und feiern passiert ganz viel", ist Noura Dirani sicher. "Kunst muss für alle zugänglich sein", sagt sie ntv.de beim Besuch in Lübeck. Seit einem Jahr ist sie die Direktorin des Hauses und will Menschen zusammenbringen, die im Alltag wenig Gemeinsamkeiten haben. Mit "Hello Lübeck! Dialoge mit Kunsthalle St. Annen", der von ihr kuratierten Ausstellung, sucht sie bewusst ein jüngeres Publikum. Dialog, klingt das nicht etwas angestaubt oder zu spießig für die neue Zielgruppe? Dirani lacht und gibt zu, dass die Unterzeile unsexy klingen mag, aber genau treffe, was sie erreichen möchte. "Die Jugendlichen und Kids sollen Lust haben, hierherzukommen und sich spielerisch durch die Räume zu bewegen."
Ein Ort voller Glück
Vor allem sollen sie zu Wiederholungstätern werden und das Museum als Wohlfühlort erleben. Im Foyer setzt Dirani mit einer speziell für die Kunsthalle entstandenen Installation, einem dauerhaften Statement für die Zukunft: 68 riesige Bauklötze aus Schaumstoff stapeln sich, leuchten bunt, sind mit antiken Säulenelementen und Wellen bemalt. Wie Legosteine können sie neu sortiert werden. Man kann auf ihnen sitzen, liegen und sich wegträumen aus dieser Welt voller Ungewissheiten. Zum Beispiel an einen Strand.
The Beach

Das Foyer als magischer Ort der Sehnsucht und der vielen Perspektiven. Die Installation "The Beach" lädt zum Austausch.
(Foto: Felix König)
Ein Strand ist ein Ort voller glücklicher Momente mit der Familie, so wie in Diranis eigener Kindheitserinnerung. Ein Ort der Sehnsucht, des Aufbruchs. Aber auch ein grausamer Platz, an dem Geflüchtete stranden und nicht wegkommen. Gleich zum Auftakt möchte die 40-Jährige in der Kunsthalle diverse Perspektiven zulassen. "The Beach" heißt das Werk und steht für das, was das Museum unter Noura Diranis Regie künftig sein soll: ein Ort für den Austausch. "Ich spreche oft und gerne Menschen an, ich möchte wissen, wer hierherkommt. Die Rolle der Museen im 21. Jahrhundert zu reflektieren, ist wichtig. Hier treffen verschiedenste Gemeinschaften aufeinander und gesellschaftlich relevante Fragen können verhandelt werden", ist sie überzeugt. "In Ausstellungen dürfen auf den ersten Blick nicht nur kunsthistorische Fragen im Fokus stehen, sondern ein Thema. Jeder soll unkompliziert verstehen, worum es geht."
Sie arbeitet mit den Museen der Stadt und den unterschiedlichen Communitys zusammen. So findet sie diejenigen, die zu den besonderen Abenden eingeladen werden. Kinder, das weiß sie, erreicht sie am besten über Vertrauenspersonen in Kitas und Sportvereinen. Also geht sie raus und versucht, andere für ihre Sache zu begeistern. Es geht darum, eine neue Welt zu eröffnen, zu erkennen, dass das, was andere denken, vielleicht gar nicht so falsch ist. Das kann ein Museum leisten, und dafür sucht Dirani Verbündete.
Den Blick öffnen
Im zweiten Raum der Kunsthalle wird das Gespräch mit allerlei Bildern verhandelt. Wie sprechen wir miteinander? Wie verändert sich Kommunikation? Die Gemälde sind lässig auf bloße Holzgestelle geschraubt. Man kann drum herumgehen, ständig ergeben sich andere Sichtachsen. "Hier nur schauen", bittet freundlich ein Schild. Und das Publikum schaut. Die Kunst sei sehr männlich und europäisch geprägt, so Dirani und lacht, aber "das wird sich ändern. Wir müssen uns und den eurozentrischen Blick öffnen."

1000 Stifte warten auf ihren Einsatz. Die Wände und der Boden dürfen hier bemalt werden.
(Foto: Felix König)
Die transkulturelle Perspektive sei neben dem Partizipativen der Ansatz in ihrer kuratorischen Arbeit. Noura Dirani möchte auch Kunst zeigen, die aus dem außereuropäischen Raum kommt. Sie hat in Heidelberg Romanistik und globale Kunstgeschichte studiert. Ihre Mutter ist Norddeutsche, der Vater aus Syrien, und sie hat sich im Studium gefragt, wo die Bilder aus der Heimat ihres Vaters denn in Europa seien. Es gehe in der Kunst doch darum, Brücken zu schlagen. Menschen in Deutschland stammen aus unterschiedlichsten Kulturen. Die Fragen, wer nicht in Museen repräsentiert und was nicht erzählt wird, sind zentral.
Wer suchet, der findet
Noura Dirani lässt Bilderfetzen im Museum verteilen, und nach einigem Hin und Her können die Schatzsuchenden ein großes Bild betrachten. Sie selbst habe fast 45 Minuten gebraucht, ruft sie den Jugendlichen zu, die mit der Puzzelei in 20 Minuten fertig waren. Jetzt haben sie Zeit, sich mehr Kunst - auf einem Trampolin hopsend - anzuschauen. Freudenschreie klingen durch das Haus.
Dieses laute Vergnügen hat sich der türkische Konzeptkünstler Ahmet Öğüt ausgedacht. Er zeigt zu hoch gehängte Malerei von Frauen. In der hauseigenen Sammlung sind gerade mal zehn Prozent der Arbeiten von Künstlerinnen, erzählt Dirani. Das ist ein Thema, für das sie künftig ihre Stimme erheben muss. "Außerdem geht es um Bewegungsvorgänge im Museum. Kunst wird in aller Regel leise laufend konsumiert. Bei uns wird man aber zum Hauptakteur."
Angst, dass etwas kaputtgeht, hat sie nicht. Sie lässt sogar mit Naturfarben gefärbte Eiswürfel auf Leinwände legen. So entsteht ein Bild nach dem anderen. Noch mehr eigene Kreativität kurbelt ein mit Papier ausgekleideter Raum an: Jeder darf zum Stift greifen und das Kunstwerk vervollständigen. Mit ihrem Konzept geht die Museumschefin zurück in vordigitale Zeiten, kommt ganz ohne Bildschirme und Technikgadgets aus. Es soll entdeckt werden, wie der eigene Fantasiemuskel funktioniert.
Den hat sich auch der Berliner Künstler Christian Jankowski vorgenommen. Er hat Schülerinnen und Schüler befragt, wie es so ist, in Lübeck groß zu werden. Das der Stadt anhaftende Label steht für viel Tradition und eher wenig Bewegung. Unter dem Motto "Ich als …" fanden in der Stadt Performances statt. Daraus entstanden Knetfiguren, die im 3D-Drucker nachgemacht wurden. Die kleinen Skulpturen visualisieren die Sorgen und Wünsche der Jugendlichen in der Bandbreite von "Ich als Sessel für alte Menschen" bis zu "Ich als Mülleimer für alle". Drei dieser Ich-als-Figuren werden in Messing gegossen und im April vor der Kunsthalle platziert. "Jede soll zwei bis drei Meter hoch werden", freut sich Noura Dirani. "Damit gießen sich junge Menschen mit ihren Visionen in die Kunstgeschichte ein." Und die Kunsthalle bleibt als Ort für diverse Dialoge im Gespräch.
"Hello Lübeck! Dialoge mit der Kunsthalle St. Annen" läuft noch bis zum 28. Juli, St. Annen-Straße 15, 23552 Lübeck.
Quelle: ntv.de