Panorama

Jazz in Moll"Wir spüren keine Sicherheit mehr"

04.01.2024, 18:56 Uhr
imageVon Torsten Landsberg
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Yuval Cohen (r.) beim Musizieren. (Foto: Peter Vit)

Wie gelingt nach dem Terror der Hamas der Weg zurück in die Normalität? Die Jazz-Szene Tel Avivs versucht es mit Gemeinschaft und Musik voller Trauer.

Fast drei Monate liegen die Angriffe der palästinensischen Terrorgruppe Hamas auf israelische Kinder, Frauen und Männer am 7. Oktober inzwischen zurück. Nach dem Schock, im Angesicht von Krieg und andauernden Raketenalarmen stehen eigentlich selbstverständliche Fragen zurück: Wie soll nach einer solchen Zäsur die Rückkehr in den Alltag möglich sein, in ganz normale Routinen, in Freizeitaktivitäten, gar ins Nachtleben?

"Es ist schwierig, bei einem Drink abzuschalten, wenn über dir Raketen fliegen", sagt Yael Hadany, Betreiberin des Jazzclubs Beit Haamudim (deutsch: Im Säulenhaus) in Tel Aviv. Zwei Wochen nach dem Angriff der Hamas hätten sie und ihr Team trotzdem entschieden, den Club wieder zu öffnen. "Wir verkaufen keine Tickets, der Eintritt ist frei", sagt sie. Wer will, könne für Musikerinnen und Musiker spenden, die in diesen Tagen ohne Gage auftreten.

Seit 2011 spielen in dem Club im Ausgehviertel am Carmel-Markt einheimische und international bekannte Musikerinnen und Musiker, sieben Tage die Woche. Das Magazin "Business Insider" zählte das Beit Haamudim zu den elf besten Jazzclubs weltweit. Normalerweise steht hier die Musik im Vordergrund, Künstlerinnen und Künstler spielen ohne Verstärker, das Publikum folgt ihnen aufmerksam.

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Musiker spielen wieder im Beit Haamudim (Foto: Daniel Tchetchik)

Momentan stehen andere Bedürfnisse im Vordergrund. "Die Leute sind sofort gekommen, als wir geöffnet haben", sagt Yael Hadany zwar, "aber niemand ist bereit für ein zweistündiges Konzert." Die Gäste wollten ein Stück ihres Alltags zurückgewinnen, doch für echten Eskapismus sitze der Schock zu tief. "Viele wollen reden, sich austauschen und nicht allein mit ihren Gefühlen und der Fassungslosigkeit sein."

Gerade in der Musikszene Israels seien viele politisch aktiv und vor einigen Monaten noch gegen die eigene Regierung und deren umstrittene Justizreform auf die Straße gegangen. "Wir sehen das immer noch kritisch, aber jetzt überwiegt das Gemeinschaftsgefühl. Und wir sprechen viel über Antisemitismus", sagt Yael. Es solle nur niemand glauben, dass in Israel nicht registriert werde, wie auch in westlichen Ländern über die politische Lage in Nahost debattiert werde - bis hin zur Relativierung der grausamen Attacke der Hamas vom 7. Oktober.

"Wir spüren keine Sicherheit"

Yael Hadany zieht einen bitteren Vergleich zur Ukraine nach der russischen Invasion: "Die Welt hat sich mit der Ukraine solidarisch gezeigt, als sie angegriffen wurde. Nach dem Angriff der Hamas auf Israel heißt es: 'Ja, das ist schlimm, aber Israel trägt eine Mitschuld'." Viele Menschen in Israel fühlten sich im Stich gelassen. "Wir spüren keine Sicherheit mehr."

2021 posierten Freunde, Familien, Musikerinnen und Musiker anlässlich des zehnten Jubiläums vor dem Club. Sie stellten die berühmte Aufnahme "A Great Day in Harlem" von 1958 nach, auf der 57 Musiker zu sehen sind, unter ihnen Count Basie und Dizzy Gillespie. Eine Hommage des israelischen Jazzclubs an die Wurzeln der Musik.

Umso schmerzhafter sei es nun, dass Musiker aus New York den Kontakt zu ihren israelischen Kollegen gekappt hätten, erzählt Yael Hadany. Auch wegen solcher Verletzungen sei es wichtig, wenigstens einen Hauch von Eskapismus zuzulassen. "Es klingt zynisch, aber natürlich müssen wir versuchen, wieder etwas Normalität in unser Leben zu lassen, zu lachen, fröhlich zu sein, wenn auch nur für einen Moment. Es ist eine seltsame Situation."

Die Bilder der Attacken vom 7. Oktober würden den Glauben an die Menschheit zerstören, sagt Yael Hadany. Die Taten seien nicht vergleichbar mit den Selbstmordattentaten in den 1990er-Jahren. "Was jetzt geschehen ist, ist vollkommen losgelöst von Menschlichkeit." Trotz allem habe sie die Hoffnung auf Frieden nicht verloren, "auch wenn ich nicht weiß, auf welche konkrete Lösung ich noch hoffen soll".

"Es ist alles gerade furchtbar traurig"

Yuval Cohen ist einer der Musiker, die regelmäßig im Beit Haamudim aufgetreten sind. An normale Clubabende sei im Moment für ihn nicht zu denken, sagt der 50-Jährige. "Es ist gerade alles furchtbar traurig und herausfordernd."

Das Sopransaxophon ist Yuval Cohens Instrument. Während des Militärdienstes spielte er in der Big Band der israelischen Armee, später studierte er in Boston und New York. Yuval stammt aus einer Künstlerfamilie, seine Schwester Anat ist eine gefeierte Klarinettistin, sein Bruder Avishai ein international bekannter Trompeter.

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Der Club Beit Haamudim feierte 2021 sein zehnjähriges Bestehen. (Foto: Yossi Zwecker)

Yuval Cohen spricht von einem Gefühl der Taubheit und Hilflosigkeit nach dem 7. Oktober. Deshalb habe er schon zwei Tage nach dem Angriff in einem Kibbuz für Menschen gespielt, die dorthin geflohen waren. "Es war das einzige, was ich tun konnte", sagt er.

Spielen ohne Ego

Aus seiner Erzählung wird spürbar, dass vieles von dem, was zeitlich vor dem 7. Oktober lag, heute seltsam egal ist. "Ich bin an bekannten Orten wie der Carnegie Hall aufgetreten", sagt Cohen, "dort zahlt das Publikum Eintritt, um mich spielen zu sehen. Und plötzlich spielst du in einer kleinen Hotellobby vor Menschen, die das Grauen erlebt haben und sich nicht dafür interessieren, wer du bist. Du spielst dort ohne Ego und nur dafür, diese Menschen für eine kurze Zeit von dem abzulenken, was sie gesehen haben." In Gesprächen nach solchen Auftritten hätten ihm Menschen, die der Hamas entkommen waren, von ihren Erlebnissen berichtet, wie sie sich versteckten, während die Angreifer in ihren Häusern wüteten.

In Tel Aviv führe er fast ein Leben in Normalität, sagt der Musiker am Telefon. Wie sehr sich das Verständnis von Normalität unterscheiden kann, wird Minuten später sehr anschaulich, als Yuval Cohen das Gespräch abrupt stoppt. Kurz darauf ist im Hintergrund der vorbeiziehende Straßenverkehr zu hören, dann meldet er sich wieder und entschuldigt die Unterbrechung. Er habe anhalten und die Fensterscheibe öffnen müssen, um sicherzugehen: "Ich dachte kurz, es sei Raketenalarm."

Seit dem Hamas-Angriff habe er an neuen Kompositionen gearbeitet, erzählt er. Seine früheren Werke, etwa das 2010 veröffentlichte Album "Song Without Words", auf dem sich fröhliche und verspielte Stücke abwechseln, vermitteln Leichtigkeit und Zuversicht. Unterscheidet sich seine nach dem 7. Oktober entstandene Musik von seinem Schaffen vor dem Angriff? "Ja, sie ist ganz anders", sagt Yuval Cohen. "Sie ist einfach vollkommen traurig."

Quelle: ntv.de