Zuzüge steigen seit Sommer anDarum flüchten wieder mehr Ukrainer nach Deutschland
Lea Verstl
Seit Juni kommen wieder mehr ukrainische Flüchtlinge. Ein Grund dafür ist Russlands massiver Terror und der Versuch, Menschen aus ihren Häusern zu bomben. Aber auch innenpolitische Entscheidungen der Regierungen in Kiew und Warschau spielen eine Rolle.
Russische Truppen haben ihre Häuser zerstört. Ihre Nachbarn ermordet. Ihre Kinder traumatisiert. Tausende Familien harren dennoch in den umkämpften Gebieten in der Ostukraine aus, bis sie evakuiert werden. Carsten Schneider hat mit ihnen gesprochen. Als Geschäftsführer von Unicef Deutschland besuchte Schneider soziale Projekte in der Region Charkiw, an Orten, die nur einige Dutzend Kilometer von der Frontlinie entfernt liegen. "Im vierten Kriegsjahr sind die Familien zermürbt. Viele Kleinkinder kennen nur den Kriegszustand. Sie leben in ständiger Angst", erzählt Schneider ntv.de auf der Rückreise aus Charkiw im Zug am Telefon.
Trotz des Schreckens angesichts des russischen Terrors: Viele wollen die Heimat nicht aufgeben, wollen nicht flüchten. Von ursprünglich etwa siebeneinhalb Millionen Kindern sind etwa fünf Millionen in dem kriegsgebeutelten Land geblieben. "Der Krieg hängt wie eine dunkle Wolke über dem Alltag der Familien. Trotzdem möchten die Menschen, mit denen wir gesprochen haben, in ihrem Zuhause, an ihrem Wohnort, in ihrer Schule und bei ihren Familien bleiben und eine friedliche Zukunft in ihrer Heimat gestalten.", sagte Schneider.
Dabei kämpfen vier von fünf Kindern in Charkiw bereits mit emotionalen Belastungsstörungen. Einige von ihnen seien aufgrund des permanenten Ausnahmezustandes in ihrer sprachlichen Entwicklung gestört, sagt Schneider. Derweil verschärft Russland seine Attacken, besonders aus der Luft. Bevorzugte Ziele sind Gebäude der zivilen Infrastruktur, etwa Wärmekraft- und Umspannwerke.
Im Oktober flüchteten 21.113 Ukrainer nach Deutschland
Der Kreml bombt die Ukraine vor dem Winter in eine Energiekrise. Täglich wird der Strom für 12 bis 16 Stunden abgeschaltet. In einigen Regionen gibt es Blackouts. "Ukrainische Mütter stellen sich jedes Jahr vor dem harten Kriegswinter die Frage, ob sie nicht doch mit ihren Kindern in Richtung Westukraine oder sogar ins Ausland fliehen wolle", sagt Schneider. Zumal Russland nicht nur die Infrastruktur bombardiert, sondern auch Wohnhäuser, wie gerade in der Großstadt Ternopil im Westen der Ukraine, wo gerade erst mehr als 30 Menschen ums Leben kamen.
Die massiven Angriffe der Russen sind einer von vielen Gründen, warum seit dem Sommer wieder mehr Ukrainer nach Deutschland fliehen. Mit Blick auf die Vorjahre sind die Zahlen noch immer niedrig, obwohl sie derzeit ansteigen. Wie viele Ukrainer jeden Monat fliehen, lässt sich nur schätzen. Denn ukrainische Staatsangehörige können sich bis zu 90 Tage ohne Visum in Deutschland aufhalten.
Belastbare Schätzungen sind nach Angaben des Mediendienstes Integration dennoch möglich - auf Grundlage der Zahlen des Verteilungssystems "Free" vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Laut dieser Schätzung sank die Zahl der Zuzüge ukrainischer Flüchtlinge seit Kriegsbeginn bis zum Mai dieses Jahres kontinuierlich -insgesamt 7777 kamen im Mai. Anschließend stieg sie wieder an, zunächst leicht auf 7834 im Juni. Etwa 3000 Zuzüge mehr gab es im Juli. Im Monat darauf sank die Zahl wieder leicht, stieg jedoch im September auf 18.579 Zuzüge an. Für den Oktober schätzt der Mediendienst, dass 21.113 Ukrainer nach Deutschland geflüchtet sind.
Junge Männer fliehen seit Sommer vor Kriegsdienst
Von einer stark zunehmenden Fluchtbewegung kann noch keine Rede sein. Zum Vergleich: Im Oktober 2024 flüchteten schätzungsweise 18.006 Ukrainer nach Deutschland, im Jahr davor 24.529 und im Oktober 2022 noch 46.895. Wohl aber lässt sich eine Trendwende erkennen, nachdem die Flüchtlingszahlen zuvor über einen langen Zeitraum gesunken sind.
Der Migrationsexperte Michael Bossong von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) verweist neben der teilweise katastrophalen humanitären Lage auch auf eine innenpolitische Entscheidung der ukrainischen Regierung als treibenden Faktor für die verstärkte Flucht nach Deutschland. "Die Ausreisebeschränkungen für 18- bis 22-jährige Männer wurden in der Ukraine aufgehoben. Ein Grund für die Ausreise dieser Männer nach Deutschland ist, sich dem Kriegsdienst ab 25 Jahren zu entziehen", sagt Bossong ntv.de. Es gehe ihnen aber auch darum, sich eine Zukunft abseits des Krieges aufzubauen.
Zudem haben innenpolitische Entscheidungen der polnischen Regierung Auswirkungen auf die Migrationsbewegungen. Seit dem Amtsantritt des rechtspopulistischen Präsidenten Karol Nawrocki verschärft die polnische Regierung ihren Kurs gegenüber ukrainischen Flüchtlingen. "In Polen wird nun etwa das Kindergeld für Ukrainer daran gekoppelt, ob ein Elternteil einen Arbeitsplatz hat", sagt Bossong. Auch die Kosten für die Unterkunft würden nicht mehr einfach so gezahlt wie in Deutschland. Diese Gesetzesänderungen führten dazu, dass sich einige Ukrainer "im Zweifel für das bessere Niveau der Sozialleistungen in Deutschland" entscheiden würden.
Berlin streicht Ukrainern Bürgergeld
Bossong hält es jedoch für falsch, den Sozialleistungen einzelner Länder eine allzu hohe Bedeutung beizumessen, wenn es um deren Attraktivität für Flüchtlinge geht. Migranten wählen sich ihr Zielland auch aufgrund anderer Überlegungen aus - darunter die sprachliche Nähe, die Aussichten auf dem Arbeitsmarkt und den gegebenenfalls vorhandenen Netzwerken aus Freunden und Angehörigen.
Wer sich überlegt, langfristig in ein Land zu ziehen, wird aber auch über das Sozialsystem und die Gesundheitsversorgung dort nachdenken. Das Beispiel Polen zeige, wie ein verschärfter Zugang zu den Sozialleistungen einen Unterschied machen könne, sagt Bossong. So argumentiert auch die Bundesregierung angesichts ihrer Entscheidung, neu angekommenen Ukrainern das Bürgergeld zu streichen.
Jeder Ukrainer, der nach dem 1. April 2025 in Deutschland angekommen ist, bekommt dann wie Asylbewerber geringere Leistungen. Aufgrund des hohen Verwaltungsaufwands wird es für den Staat kaum Einsparungen durch die Gesetzesänderung geben. Es geht eher darum, die Flüchtlinge durch einen erschwerten Zugang zu den Leistungen abzuschrecken. "Die Politik im Zielland hat begrenzte Möglichkeiten, Migration einzudämmen. Es gibt einige Hebel, die die Bundesregierung nun bewegt, also: weniger Leistungen, mehr Kontrolle, schnellere Vermittlung in niedrigschwelligere Jobs", sagt Bossong.
Jugendliche engagiert bei Zukunftsprojekten für Ukraine
Die Hauptursache für die Flucht der Ukrainer ist und bleibt jedoch der Krieg. Die Europäer können die Fluchtursachen also auch bekämpfen, indem sie das kriegsgebeutelte Land unterstützen - mit mehr Waffenlieferungen, dem Ausbau von Infrastruktur und humanitärer Hilfe.
Unicef-Deutschland-Geschäftsführer Schneider besuchte auf seiner Reise durch Charkiw unter anderem Schulen, die dabei unterstützt werden, ihre Schutzkeller besser zu dämmen und kindgerecht zu gestalten. Unicef versucht, Kindern neben der Schulbildung auch Projekte anzubieten, bei denen es um die Zukunft der Ukraine geht.
"In Gesprächen mit ukrainischen Jugendlichen sah ich die innere Zerrissenheit. Sie erzählten mir einerseits unter Tränen, dieser Krieg nehme ihnen ihre Zukunft. Andererseits engagieren sie sich in technischen und sozialen Projekten, bei denen es darum geht, ihr Land nach dem Krieg wieder aufzubauen", so Schneider. Die Menschen in Charkiw hätten eine unheimliche Widerstandskraft. Nur so könnten sie es dort noch aushalten.