
Der Demokrat John Fetterman will für Pennsylvania in den Senat einziehen.
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Möchte US-Präsident Biden nicht zahnlos regieren, müssen seine Demokraten zumindest die hauchdünne Senatsmehrheit halten. Fast alle Augen sind auf den umkämpften Bundesstaat Pennsylvania gerichtet - wo John Fetterman die Partei mit den Arbeitern versöhnen soll.
Im Keller, am Keimsprung der Hoffnung, da riecht es nach Frittierfett. Shayla Wolford lehnt sich auf die Theke vor der offenen Küche, guckt auf den dröhnenden Fernseher, in dem die TV-Serie "Reich und Schön" läuft, und diskutiert mit ihrer jugendlichen Tochter darüber, wer von den Charakteren nun eigentlich wen betrogen hat. Dann zieht die 45-Jährige eine angefangene Zigarette aus der Tasche, läuft die Rollstuhlrampe nach oben vor das Gemeindezentrum und stellt sich ein paar Minuten rauchend in die Sonne.
"John ist einer von uns", sagt die Mutter von drei Kindern, die in Pittsburghs Vorstadt Braddock im Westen des US-Bundesstaats Pennsylvania aufgewachsen ist. "Du siehst ihn auf der Straße im Hoodie und mit kurzen Hosen, und das schreckt niemanden ab." John, das ist John Fetterman, Senatskandidat der Demokraten für den Bundesstaat. Er verkörpert, was Wähler der US-Demokraten in den vergangenen Jahren bei Wahlen so häufig vermisst haben. Volksnähe, Authentizität, ein Ohr für Arbeiter. "Er war stolz darauf, unser Bürgermeister zu sein", ist Shayla Wolford überzeugt.
Bei den Kongresswahlen am Dienstag, wenn das Repräsentantenhaus und ein Drittel des Senats neu gewählt werden, soll der frühere Sozialarbeiter mit diesen Qualitäten den Senatssitz von den Republikanern erobern. Wenn gleichzeitig in anderen Bundesstaaten nicht alles schiefläuft, könnten Präsident Joe Biden und die Demokraten mit einem roten Auge davonkommen. Und zumindest im Senat die hauchdünne Mehrheit der Demokraten verteidigen. Beide Parteien pumpen deshalb Dutzende Millionen Dollar in den Wahlkampf von Pennsylvania, das Duell zwischen Fetterman und seinem republikanischen Widersacher Mehmet Oz, dem Fernseharzt "Dr. Oz", wird minutiös begleitet. Biden, die Ex-Präsidenten Barack Obama und Donald Trump - alle drei warfen sich bis zuletzt in Pennsylvanias Wahlkampf.

Der TV-Arzt Dr. Oz tritt für die Republikaner an. Von ihm hatte Donald Trump die (falsche) Idee, dass Hydroxychloroquin gegen Corona helfen könnte.
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Braddock liegt am Monongahela River, gesäumt von herbstlichen Laubbäumen, ein langer Güterzug zieht langsam am gegenüberliegenden Ufer entlang. Schiffe können von hier in den Ohio River und Mississippi bis in den Golf von Mexiko gelangen. An der Hauptstraße stehen heruntergekommene Häuser; ein trutziges Bankgebäude mit bleichen Fensterscheiben, gegenüber dem Stahlwerk eine verrammelte Bar. Ein Plakat am verlassenen Hotel ruft zur Wahl auf.
Vor hundert Jahren lebten einmal mehr als 20.000 Menschen hier. Jahrzehntelang schrumpfte die Vorstadt, in den vergangenen Jahren stabilisierte sich die Bevölkerungszahl bei rund 1900 Einwohnern. Rund 35 Prozent davon lebten 2020 unter der Armutsgrenze.
Ein Leben am Stahlwerk
Shayla Wolford hat fast ihr gesamtes Leben in Braddock verbracht, ihre eigenen Kinder hier aufgezogen. Sie erlebte seit den 1980er-Jahren, wie der Niedergang der Industrie ihre Heimatstadt mit ein paar Tausend Einwohnern in den Abgrund riss. Wie in den 90ern die Gangs, Drogen und Morde nach Pittsburgh kamen, immer mehr Menschen wegzogen und Läden schlossen. Und wie Fetterman der Vorstadt der früheren Stahlmetropole danach wieder Hoffnung auf ein besseres Leben einflößte.
Fetterman ist ein Zugezogener, der zunächst in einem Jugendprogramm arbeitete. Als Lokalpolitiker machte er sich zwischen 2006 und 2019 einen Namen. Fetterman krempelte die Ärmel hoch; auf seinen linken Arm ließ er sich die Postleitzahl von Braddock tätowieren, auf den rechten die Daten der neun Morde, die während seiner 13-jährigen Amtszeit verübt wurden. An den Tatorten trat der Bürgermeister vor die Fernsehkameras.
Er startete Anti-Waffen-Aktionen, mithilfe einer eigenen gemeinnützigen Organisation sammelte Fetterman Spenden, kaufte eine alte Kirche gegenüber der historischen Bibliothek und verwandelte sie in ein Gemeindezentrum. Der vordere Teil des Backsteingemäuers wurde vermietet, dort, wo Shayla Wolford seit drei Jahren die Einwohner ihrer Heimat bekocht. Hinter dem Imbiss-Café befindet sich ein Aufenthalts- und Veranstaltungsraum für Jugendliche, damit die nicht auf der Straße herumhängen müssen. Unbekannte Besucher werden abgewiesen - jeder soll sich hier sicher fühlen.
Seit 2019 ist Fetterman Vizegouverneur von Pennsylvania, aber noch immer wohnen er und seine Familie in einem Haus in Braddock, gegenüber dem Stahlwerk. Dort, wo Pittsburghs Weltruhm als Stahlstadt seinen Anfang nahm; seit 1874 wird hier Stahl gegossen, anfangs vor allem für die schienenhungrige Eisenbahn, die sich durch das Land fraß. Das Gemeindezentrum ist nur ein paar Minuten zu Fuß entfernt, an einem Gemüsefeld und einem Gemeinschaftsgarten vorbei. Davor steht die historische Bibliothek, die den Namen des Stahlwerkgründers Andrew Carnegie trägt, einstmals einer der reichsten Männer der Welt. In seinen letzten Lebensjahren verschenkte der fast sein gesamtes Vermögen für gemeinnützige Zwecke.
"Könnte niemand anderen wählen"
Bei Shayla Wolford ist das Geld immer knapp. Die Inflation macht es nicht einfacher. "Ohne Sozialprogramme säße ich frierend im Dunkeln", sagt sie. Im Laden der Farm bekommt sie ihr Gemüse günstiger als in der Mall, im Gratisladen von Fettermans Frau bekommt sie Weihnachtsgeschenke, Halloween-Kostüme und Wintersachen. Auch Arbeitskleidung gibt es dort, oder einen Anzug für Vorstellungsgespräche. Arbeitsplätze und Inflationsbekämpfung, das sind für nahezu alle Wähler in Pennsylvania die entscheidenden Themen bei dieser Wahl. Für die Köchin ist es das Recht auf Abtreibung.
Fast ein halbes Jahrhundert lang hatte ein Präzedenzurteil des Supreme Court gegolten, doch der derzeit konservativ dominierte Oberste Gerichtshof kippte es vor ein paar Monaten. Seither kann jeder Bundesstaat machen, was er will. "Seien wir ehrlich, nicht-weiße Frauen wie mir schadet ein Abtreibungsverbot besonders", sagt Shayla Wolford: "Ich könnte nie jemanden wählen, der das anders sieht."
In Pennsylvania gilt das gleiche Abtreibungsrecht wie zuvor, bis maximal zur 23. Schwangerschaftswoche. Aber ein republikanisch dominierter Kongress könnte versuchen, ein bundesweites Verbot gesetzlich zu verankern. Mehr als zwei Drittel der Einwohner Braddocks bezeichnen sich als Schwarze oder Afroamerikaner.
So wie die Demokraten den 54-jährigen Fetterman als authentischen Streiter der Arbeiter darstellen, so halten die Republikaner dagegen. Millionen Dollar investierten die Konservativen in sogenannte Attack Ads gegen Fetterman, also in Werbung, die den Gegner diskreditieren soll. Er sei zu "weich" gegen Kriminelle, hieß es da etwa. Erwähnt wurde auch, dass der Demokrat ja Absolvent der Elite-Universität Harvard sei. In einer konservativen Radioshow wurde ihm vorgeworfen, er habe sich "genauso wie Karl Marx, der nie etwas in seinem Leben erreicht hat", von seiner Familie aushalten lassen. Der moralische Vorwurf ist eindeutig: Fetterman sei nicht ehrlich und auch keiner wie Du und ich. Sondern ein Schauspieler.
Nachdem er im Mai einen Schlaganfall erlitten hatte, hielt sich Fetterman aus der Öffentlichkeit heraus, trat aber kurz vor der Wahl zu einem TV-Duell gegen 62-jährigen Dr. Oz an. Fetterman kämpfte noch sichtlich mit seiner Gesundheit. "Nicht fürs Amt geeignet", war das erwartbare Urteil vieler Konservativer danach. Der Aufreger von der anderen Seite war Dr. Oz, der während der Debatte sagte, "lokale Politiker" sollten mitentscheiden dürfen, ob Frauen abtreiben dürfen. Ein veritabler Shitstorm folgte.
"Ich würde gerne mit ihm reden"
Ein paar Tage nach dem Fernsehauftritt sind Hunderte Blicke auf eine Open-Air-Konzertbühne im Zentrum von Pittsburgh gerichtet. Bis zur Kongresswahl ist es nicht mehr lange hin, vor riesiger US-Fahne tritt der Kandidat ans einsame Rednerpult und breitet die Arme aus, während AC/DCs "Back in Black" aus den Boxen dröhnt. "Ich wurde umgeworfen, aber ich bin wieder aufgestanden", sagt Fetterman unter Jubel. "Das werde ich für euch auch tun: Ich werde jedem wieder aufhelfen, den es umwirft."
Amy Coleman hört dem Kandidaten genau zu. Die 48-Jährige ist Kostümdesignerin, arbeitet auch fürs Theater und ist Mitglied der Gewerkschaft der Veranstaltungsbranche. "Wir Leute aus der Mittelschicht und die Schlechtergestellten, wir bekommen grade viel ab", erzählt sie. Die Lebensmittelpreise hätten sich gefühlt verdreifacht, ihr Mann könne nicht arbeiten gehen, weil sie sich keine Tagesstätte für ihre beiden Kinder leisten könnten. "Fetterman ist der Vertreter des kleinen Mannes", ist Amy Coleman überzeugt.
Fetterman macht viele Versprechen, die wohl jeder Demokrat so ähnlich machen würde: den Mindestlohn erhöhen, das Abtreibungsrecht in ein Gesetz gießen, die Krankenversicherungen verbessern. Aber er ist eben nicht im Anzug gekommen, sondern als der bekannte Hüne mit Glatze aus dem Stahlstädtchen Braddock, der Kapuzenpulli und Jogginghose trägt. Lange lag Fetterman in Umfrageergebnissen sehr deutlich vorn, aber je näher die Wahl rückte, desto offener ist das Rennen geworden.
Vielleicht gibt es trotz des wackligen Auftritts im Fernsehen ein Argument, das Fetterman über die Ziellinie nach Washington D.C. schubst: Seinem Gegner fehlen die Wurzeln. Dr. Oz ist im Nachbarbundesstaat New Jersey heimisch und hat sich nur ein Haus in Pennsylvania gekauft, um dort antreten zu dürfen. "Er hat nicht die Sicht der Dinge wie wir", sagt Amy Coleman: "Dafür hat er zu viel Geld." Und Fetterman? "John wirkt sehr verbindlich, als würde er den Leuten zuhören", sagt sie. "Also ich würde mich gerne hinsetzen und mit ihm reden."
Quelle: ntv.de