"Es wird ein Gemetzel geben" Gaddafi will Libyen "Haus für Haus säubern"
22.02.2011, 19:59 Uhr
Gaddafi droht seinen Gegnern mit einem "Gemetzel", sollten sie ihre Proteste nicht beenden.
(Foto: dpa)
Obwohl Libyens Staatschef Gaddafi weitgehend die Kontrolle über sein Land verloren hat, denkt er nicht an Rücktritt. Seinen Gegnern schleudert er Hasstiraden entgegen. Er nennt sie Ratten, die vernichtet würden. Er ruft die Armee und die Polizei des Landes auf, den Aufstand niederzuschlagen. Die Gegner Gaddafis haben jedoch bereits 90 Prozent des Landes unter ihrer Kontrolle. Überall im Land desertieren Armee-Einheiten und Sicherheitskräfte. Gaddafi setzt stattdessen Söldner gegen seine Landsleute ein. Die Opposition spricht von 600 Toten und 1400 Vermissten. Zahlreiche Länder holen ihre Staatsangehörigen eiligst nach Hause.
Muammar al-Gaddafi klammert sich weiterhin mit allen Mitteln an die Macht und hat den Demonstranten in Libyen unverhohlen mit brutaler Gewalt gedroht. In einer Rede im Staatsfernsehen kündigte er an, Libyen "Haus für Haus zu säubern", und bezeichnete die Regierungsgegner als "Ratten". In groß angelegten Rettungsaktionen begannen zahlreiche Staaten, ihre Bürger aus Libyen zu holen.
"Legt Eure Waffen sofort nieder, sonst gibt es ein Gemetzel", rief der 68-Jährige. Den "Rebellen" drohte er mit einer blutigen Niederschlagung der Proteste "ähnlich wie auf dem Tiananmen-Platz" in Peking im Jahr 1989. Er werde als "Revolutionsführer" im Land bleiben und sei bereit, als "Märtyrer" zu sterben. "Ich werde bis zum letzten Tropfen meines Blutes kämpfen", sagte der libysche Machthaber.
Unterdessen haben die Gegner Gaddafis nach eigenen Angaben fast ganz Libyen unter ihre Kontrolle gebracht. Überall im Land seien Armee-Einheiten und Sicherheitskräfte übergelaufen, sagten ranghohe libysche Funktionäre, die auf Distanz zu Gaddafi gegangen sind. Die Aufständischen beherrschten bereits 90 Prozent des Landes.
Revolutionsführer auf Lebenszeit

"Wir wussten, dass er verrückt ist" sagen seine Landsleute. Dass Gaddafi so unnachgiebig und brutal reagieren würde, hätten sie nicht gedacht.
(Foto: AP)
Erstmals seit Beginn der Proteste vor einer Woche wandte sich Gaddafi live an das Volk; in der Nacht zuvor hatte das Fernsehen lediglich ein wenige Sekunden langes Statement von ihm ausgestrahlt. In der Ansprache unterstrich er seine impulsiven Aussagen mit heftigen Gesten, mal ballte er die Faust, mal hob er drohend einen Finger. "Muammar Gaddafi ist für immer Revolutionsführer", sagte er. "Das ist mein Land, das Land meiner Eltern und Vorfahren."
Gaddafi äußerte sich vor seiner Residenz, die 1986 vom US-Militär bombardiert worden war. Zu den Forderungen nach seinem Rücktritt erklärte er, er habe gar keinen offiziellen Posten, von dem er zurücktreten könne. Gaddafi hatte sich im September 1969 unblutig in Libyen an die Macht geputscht und wenige Jahre später den "Staat der Massen" ausgerufen. Da sich dieser in der Theorie selbst regiert und keinen Staatschef braucht, ließ sich Gaddafi offiziell auch nie so nennen.
"Das libysche Volk steht hinter mir", sagte Gaddafi und forderte seine Anhänger auf, am Mittwoch für ihn zu demonstrieren. "Fangt diese Ratten", sagte er mit Blick auf die Demonstranten. "Kein Irrer wird unser Land in Stücke reißen können." Die Armee und die Polizei des Landes forderte er auf, den Aufstand niederzuschlagen.
Gaddafi versprach den Libyern eine Reihe von nicht näher definierten Reformen. Die lokale Selbstverwaltung solle ausgebaut werden. "Morgen bauen wir eine neue Dschamahirija." Mit dieser arabischen Wortschöpfung bezeichnet Gaddafi die "Herrschaft durch das Volk." Seine Rede beendete er mit den Worten "Revolution, Revolution."
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bezeichnete die Fernsehansprache Gaddafis als "sehr erschreckend". Gaddafi habe "quasi seinem eigenen Volk den Krieg erklärt", sagte Merkel in Berlin. Die Nachrichten aus Libyen seien "in höchstem Maße beunruhigend". Merkel forderte die libysche Regierung auf, "sofort und sehr konsequent aufzuhören, Gewalt anzuwenden gegen die eigenen Menschen". Andernfalls drohte die Kanzlerin Libyen mit Sanktionen.
Fast 600 Tote und 1400 Vermisste
Das Ausmaß der Gewalt bleibt weiterhin unübersichtlich. Die Opposition geht von nahezu 600 Toten bei Ausschreitungen und brutalen Übergriffen der Sicherheitskräfte aus. Gaddafi-treue Einheiten sollen in den vergangenen Tagen schwere Waffen und auch Kampfflugzeuge eingesetzt haben. Allein in der von Regimegegnern kontrollierten Stadt Bengasi sollen bislang etwa 400 Menschen ums Leben gekommen sein. Der Nachrichtensender Al-Arabija meldete, etwa 1400 Menschen würden noch vermisst. Nach offiziellen libyschen Angaben wurden mindestens 300 Menschen getötet, darunter auch mindestens 58 Soldaten.
Aus Protest gegen die Gewalt kündigten nach zahlreichen Botschaftern auch mehrere Mitarbeiter der libyschen UN-Vertretung in New York Gaddafi die Gefolgschaft auf. In einer Erklärung forderten sie von der libyschen Armee, den Revolutionsführer zu entmachten. Sie warfen ihm "Völkermord" an seinem eigenen Volk vor. Der UN-Sicherheitsrat debattierte in einer Dringlichkeitssitzung zu Libyen.
Länder holen ihre Bürger nach Hause
Angesichts der gewaltsamen Unruhen in dem Land holen derzeit zahlreiche Länder in dramatischen Rettungsaktionen ihre Staatsangehörigen nach Hause. Die Bundesregierung entsandte eine Linienmaschine und zwei Bundeswehr-Flugzeuge, um Deutsche in Sicherheit zu bringen. Die chaotischen Zustände in dem nordafrikanischen Land verhinderten aber die Ausreise zahlreicher Ausländer. Es würden auch weitere Möglichkeiten der Ausreise geprüft, unter anderem der Seeweg.
Die deutsche Botschaft in Tripolis und der Krisenstab arbeiteten mit "Hochdruck", sagte Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) in Berlin. Alle sich in Libyen aufhaltenden Deutschen sollten das Land verlassen. Am Montag wurden rund 100 Deutsche mit einer Lufthansa-Maschine aus Libyen ausgeflogen. Derzeit befinden sich noch rund 400 Bundesbürger in dem nordafrikanischen Land. Dabei handele es sich in erster Linie um Mitarbeiter von Firmen und Organisationen.
Besonders heikel scheint die Lage in der zweitgrößten Stadt Bengasi. Auf dem Flughafen der Stadt, wo wegen der Unruhen zahlreiche Ausländer festsitzen, können keine Maschinen mehr landen. Der ägyptische Außenminister Ahmed Abul Gheit sagte, die Landebahn sei bombardiert worden. Ägypten hatte geplant, Flugzeuge nach Bengasi zu schicken, um ägyptische Gastarbeiter dort abzuholen. Gheit riet seinen Landsleuten in Bengasi, sie sollten keinesfalls versuchen, über die Straße bis zur 500 Kilometer entfernten Grenze zu Ägypten zu gelangen. Dies sei zu riskant. Seinen Angaben zufolge leben in Libyen rund 1,5 Millionen Ägypter.
Auch andere Länder schicken eilends Flugzeuge nach Libyen. Frankreich entsandte drei Militärmaschinen nach Tripolis. Sie habe die französische Botschaft in Tripolis angewiesen, allen Franzosen zu helfen, den Flughafen der Stadt zu erreichen, erklärte Außenministerin Michèle Alliot-Marie. Italien stellt bislang eine Militärmaschine zur Evakuierung ab und entsandte ein Militärschiff. Die griechische Regierung bemühte sich um Landegenehmigungen an vier libyschen Flughäfen, wie das Außenministerium des Landes mitteilte. Zudem charterte die Regierung ein Tankschiff, um Griechen in Sicherheit zu bringen.
Großbritannien beorderte ein Kriegsschiff in die internationalen Gewässer nahe Libyen. Die Fregatte "HMS Cumberland" sei vom östlichen Mittelmeer in die Nähe Libyens geholt worden, sagte der britische Außenminister William Hague in London. Er sprach von einer Vorbereitung für den Fall, "dass sie angefordert wird, um eine Rolle bei der Hilfe für britische Bürger zu spielen". Die libysche Führung solle wissen, "dass wir nicht nur reden und Depeschen schicken".
Ölpreise steigen weiter
Das Chaos in Libyen treibt die Ölpreise weiter in die Höhe. Ein Barrel (159 Liter) der Nordseesorte Brent zur Auslieferung im April kostete am Dienstagabend 107,05 US-Dollar und war damit 1,31 Dollar teurer als am Vortag. Der Preis für ein Fass der US-Sorte West Texas Intermediate (WTI) stieg ebenfalls deutlich auf 95,10 Dollar. In der Spitze war Brent auf 108,57 Dollar gestiegen, WTI kostete bis zu 98,48 Dollar. Damit kosten die Ölsorten derzeit so viel wie seit rund zweieinhalb Jahren nicht mehr.
Weitere internationale Öl- und Gaskonzerne stellten ihre Förderung in Libyen ein und zogen ihre Mitarbeiter aus dem Krisenland ab, so auch die stark engagierte spanische Repsol-YPF und der italienische Versorger Eni. Experten erwarten einen weiteren Preisanstieg. Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) sieht jedoch keine Gefahr für den Ölnachschub in Deutschland.
Experten warnen
Der deutsch-ägyptische Politikwissenschaftler Hamed Abdel-Samad verwies im Interview mit n-tv.de darauf, dass die bisherigen Umbrüche in Tunesien und Ägypten zwar weitgehend friedlich verlaufen seien. Die in anderen arabischen Ländern herrschenden Stammeskulturen könnten jedoch auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führen. Christian-Peter Hanelt, Nahostexperte der Bertelsmannstiftung, warnt bei n-tv ebenfalls vor einer Eskalation. Gaddafi und seine Clique könnten mit aller Kraft an der Macht festhalten und dazu auch die äußersten Mittel einsetzen, "nämlich ihre eigenen Bürger zu bekriegen". Im Gegensatz zu Ägypten und Tunesien habe Libyen "keine Parteien, keine freie Presse, keine richtige Zivilgesellschaft, keine Unternehmerschaft mit einem Mittelstand, auch keine richtige Bildungsjugend und wird daher einen sehr viel schwierigeren Übergang und auch Neuanfang in eine Transformation gehen, wenn dann wirklich das Gaddafi-Regime gestürzt werden sollte."
Quelle: ntv.de, ppo/AFP/dpa/rts