
"Dem deutschen Volke", wie es auf dem Reichstag steht, bot sich keine erquickliche Debatte.
(Foto: picture alliance/dpa)
Der Bundestag kommt zu einer historischen Sitzung zusammen. Die Vertrauensfrage wird schließlich nur in Krisenzeiten gestellt. Die Abstimmung geht zwar reibungslos über die Bühne, doch die vorherigen Reden müssen zu denken geben, ob alle Beteiligten auf Augenhöhe mit der Krisenlage sind.
Nassgrau und windig ist dieser letzte Montag der letzten vollen Arbeitswoche des Jahres in Berlin. Es ist auch der letzte Arbeitstag des amtierenden Bundeskanzlers Olaf Scholz. Amtierend geht er in den Bundestag hinein, amtierend verlässt Scholz am Nachmittag das Reichstagsgebäude - nun aber offiziell als Regierungschef auf Abruf. Der Bundestag hat ihm wie geplant mehrheitlich das Misstrauen ausgesprochen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kann, nachdem Scholz ihn darum gebeten hat, im neuen Jahr Bundestagswahlen für den 23. Februar anordnen. Formal alles nach Plan, normal aber ist das alles nicht. Vertrauensfragen werden in Krisenzeiten gestellt; immer dann, wenn es anders nicht mehr weitergeht.
Dabei gibt sich insbesondere die SPD an diesem Tag große Mühe, den Eindruck von Unaufgeregtheit, von Normalität zu erwecken. Von einem "Tag der Klarheit" spricht SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, bevor er sich mit seiner Fraktion zu einer kurzen Sondersitzung trifft. Die Sitzung ist auch notwendig: Nicht bei allen SPD-Bundestagsabgeordneten herrscht vor der Debatte zur Vertrauensfrage Klarheit darüber, wie sie denn abstimmen sollen. "Die SPD-Bundestagsfraktion wird dem Bundeskanzler allen Zuspruch geben, den er braucht, aber den er auch verdient hat", sagt Mützenich erst vor Journalisten. Anschließend informiert er die Fraktion über die gemeinsame Linie. Abgesehen von drei AfD'lern und den Sozialdemokraten sprechen auch drei fraktionslose Abgeordnete Scholz das Vertrauen aus. Unter ihnen der inzwischen parteilose Verkehrsminister Volker Wissing.
Scholz hält Wahlkampfrede
Dass der Kanzler sich zur Fraktionssondersitzung von seiner Ehefrau Britta Ernst begleiten lässt, signalisiert dann aber doch die außergewöhnliche Bedeutung dieses Tages. Ernst wohnt anschließend auch der Plenardebatte bei. In seiner Rede zur Begründung der Vertrauensfrage lässt Scholz die Bedeutungsschwere des Ganzen aber höchstens anklingen. "Es ist das sechste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik", dass ein Kanzler die Vertrauensfrage stellt, ordnet Scholz seinen Antrag nach Artikel 68 des Grundgesetzes ein. Zur Wahrheit gehört: Nur drei Mal war dabei das Ziel, Neuwahlen einzuleiten. Noch nie war der Antragsteller im Bundestag klar in der Minderheit. Scholz befragt die Bundestagsabgeordneten als Gescheiterter nach ihrem Vertrauen.
Dieses Vertrauen will Scholz jenseits der eigenen Genossen gar nicht ausgesprochen haben. Er will jetzt Neuwahlen und hält deshalb auf größtmöglicher Bühne eine Wahlkampfrede. Die Bundesrepublik müsse entscheiden, wie sie die anstehenden Aufgaben angehen und finanzieren will - die Unterstützung der Ukraine und Aufrüstung der Bundeswehr, die Ertüchtigung der Infrastruktur und den Anschub der Wirtschaft, den Erhalt des Sozialstaats. "Diese Entscheidung ist so grundlegend, dass sie vom Souverän selbst getroffen werden muss, von den Wählerinnen und Wählern", begründet Scholz die Notwendigkeit vorgezogener Neuwahlen. Die Koalition aus SPD, Grünen und FDP habe sich in dieser Frage nicht mehr einigen können.
Er, der Bundeskanzler, habe die "Kraft, die Koalition zu beenden, weil es so nicht mehr weiterging", sagt Scholz. Der FDP-Vorsitzende und vormalige Bundesfinanzminister, Christian Lindner, habe "nötige sittliche Reife" für ein Regierungsamt missen lassen. Der Rest der Kanzlerrede findet sich so auch im Entwurf zum SPD-Bundestagswahlprogramm: Senkung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel, Deckelung der Strompreise, Steueranreize für Unternehmensinvestitionen in Deutschland, Deutschlandfonds zur Finanzierung des Infrastrukturausbaus, 15 Euro Mindestlohn, Reform der Schuldenbremse und keinesfalls Bundeswehr-Marschflugkörper vom Typ Taurus für die Ukraine.
Habeck: "Waren alle genervt voneinander"
"Das ist schon verrückt, dass man in so einer Rede nicht ein Wort der Selbstreflexion kommt", kommentiert die vormalige Grünen-Bundesvorsitzende Ricarda Lang. Ihr Misstrauen sprechen die Grünen dem Kanzler dennoch nicht aus. Sie enthalten sich in der Vertrauensfrage. Seine Partei habe "alles dafür getan, dass diese Regierung bestehen bleibt", sagt Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. Die FDP dagegen habe die Ampel "von innen zerstören wollen". Der Kanzlerkandidat der Grünen ist im schmucken Dreiteiler erschienen. "Wir waren alle drei genervt voneinander", räumt Habeck die Stimmung innerhalb der gescheiterten Koalition ein. "Die Ampel hat in vielerlei Hinsicht zurecht einen schlechten Ruf gehabt."
Was konkret er hätte besser machen müssen, um das Bündnis zum Erfolg zu führen, sagt Habeck nicht. Er mahnt aber, in künftigen Bundesregierungen müssten alle Beteiligten bereit sein, über ihren Schatten zu springen. "Alle tun so, als ob wir - Schnipps! - Neuwahlen haben und danach ist alles besser", sagt Habeck. Es sei aber "sehr unwahrscheinlich, zu vermuten, dass die nächste Regierung es irgendwie einfacher haben würde".
"Herr Bundeskanzler, Sie haben Ihre Chance gehabt"
Keinesfalls einfacher hätte es Habeck mit einem Bundeskanzler Friedrich Merz anstelle von Olaf Scholz. Das macht Merz ihm höchstpersönlich deutlich: "Diese Wirtschaftspolitik, die machen Sie mit uns in jedem Fall nicht", hält Merz dem Grünen entgegen, deren Energiepolitik er vor allem geißelt. Doch vornehmlich arbeitet sich der Unionskanzlerkandidat am Amtsinhaber ab: Scholz' Umgang mit der FDP? "Respektlos!" Die Ertüchtigung der Bundeswehr? Halbherzig. Mehrwertsteuersenkungen auf Lebensmittel? Nicht zu Ende gedacht! Scholz' EU-Politik? "Zum Fremdschämen!" Merz urteilt: "Herr Bundeskanzler, Sie haben Ihre Chance gehabt, Sie haben Ihre Chance nicht genutzt."
Führungsqualität spricht der CDU-Chef Scholz ab. "Der Streit ist entstanden, weil Sie nicht willens und in der Lage waren, eine Koalition zusammenzuhalten aus SPD, Grünen und FDP, die vorne und hinten nicht zusammengepasst haben." Weil auch die CDU einen Wahlprogrammentwurf fertig in der Schublade liegen hat, nutzt Merz ebenfalls die Gelegenheit für etwas Wahlkampf. "Wir werden alle mehr arbeiten müssen", kündigt Merz an, was in Merz' Fall stimmen mag: Der Bundeskanzler hat schließlich mit die höchste Wochenarbeitszeit im Land. Doch Merz denkt dabei insbesondere an 1,6 Millionen erwerbsfähige Bürgergeldbezieher, die künftig "nicht mehr auf Kosten des Steuerzahlers" zu Hause bleiben sollen.
Bei fast allen Reden ist das Gejohle von den jeweils anderen Fraktionsbänken laut und abfällig. In den vergangenen drei Jahren gab es manch unversöhnliche Bundestagsdebatte, gerade zwischen Scholz und Merz. So hart im Ton ging es aber insgesamt selten zu in den jüngeren Jahrzehnten des Deutschen Bundestags. Dass die Beteiligten irgendwann nach der Wahl auch wieder zueinanderfinden und dies der Öffentlichkeit plausibel erklären müssen, scheint an diesem Tag aber kaum eine Rednerin und Redner umzutreiben.
Weidel attackiert Merz
Am allerwenigsten die AfD, mit der auch nach der Bundestagswahl niemand kooperieren wird. Ihre Kanzlerkandidatin Alice Weidel spricht von Zehntausenden Syrern, die nach dem Sturz von Baschar al-Assad "unter islamistischen Kampfgesängen über Weihnachtsmärkte und durch unsere Fußgängerzonen marschieren". Deutschland sei "geflutet mit fordernd auftretenden Migranten, die das Vorgefundene verachten". Auch bei den Themen Wirtschaft, innere Sicherheit und Ukraine-Krieg überbietet Weidels Apokalypse-Rede alle Schreckensbeschreibungen ihrer Vorredner. Das ist umso schwieriger, je alarmierter auch die übrigen Parteien über Deutschlands Gesamtsituation sprechen.
Da Weidel ebenfalls schon im Wahlkampfmodus ist, widmet sie der CDU genauso viel Aufmerksamkeit wie der SPD, bei der die AfD ohnehin kaum noch Wähler zu holen hat. "Wer die Geschicke Deutschlands in die Hände von Friedrich Merz legt, der wählt den Krieg", sagt Weidel und wiederholt diese Behauptung in verschiedenen Variationen mehrfach an diesem Tag vor jedem Mikrofon. "Unterirdisch", findet das erwartungsgemäß der CSU-Landesgruppenvorsitzende Alexander Dobrindt, der seinerseits die Distanzierung der AfD von der NATO ins Visier nimmt: "Unsere Sicherheitsgarantie für jeden deutschen Bürger ist die NATO."
"Wir wären damit am Schluss"
"Unterirdisch" wäre aber wohl auch ein Fazit unter die gesamte Debatte, die reich an Vorwürfen und arm an Verbindendem ist. Viel Ehrabschneidendes ist da zu hören und nur wenig Reflexion, in welcher Lage sich dieses Land befindet. Einen Versuch immerhin unternimmt der fraktionslose Abgeordnete Stefan Seidler von der dänischen Minderheitenpartei Südschleswigscher Wählerverband (SSW): Er erinnert den Bundestag daran, dass das Parlament sehr wohl auch in den kommenden Wochen bis zur Bundestagswahl die konkreten Probleme der Menschen im Land lindern helfen könnte.
Seidler liefert eine der letzten Wortmeldungen, bevor die Abgeordneten schließlich über die Vertrauensfrage abstimmen. Scholz bekommt das gewünschte Ergebnis: Er regiert das Land nun offiziell ohne das Vertrauen von 483 der insgesamt 736 Abgeordneten zu haben. Nach der Verkündung des Ergebnisses nimmt Scholz auf der Regierungsbank doch tatsächlich so etwas wie Glückwünsche entgegen. Für Verabschiedungen wäre es ja noch zu früh.
"Wir wären damit am Schluss unserer Tagesordnung", schließt Bundestagspräsidentin Bärbel Bas die Sitzung. "Auch der Ampel." Es gibt ein wenig Gelächter im Saal. Parteispitzen und prominentere Bundestagsabgeordnete eilen raus aus dem Plenum, hinaus zu den davor wartenden Mikrofonen und Kameras. Jetzt ist Bundestagswahlkampf. Schön wird das nicht.
Quelle: ntv.de