Friedrich spricht von Rechtsterrorismus Neonazi-Helfer festgenommen
13.11.2011, 15:49 Uhr
Im Zusammenhang mit den sogennannten Döner-Morden nimmt die Polizei einen 37-jährigen Mann fest. Er soll Mitglied der terroristischen Vereinigung "Nationalsozialistischer Untergrund" und ein Komplize des Neonazi-Trios sein, dem mehrere Morde vorgeworfen werden. Bundesinnenminister Friedrich spricht angesichts der Mordserie erstmals von Rechtsterrorismus.
Ein mutmaßlicher Komplize des Neonazi-Trios, das für die so genannten Döner-Morde verantwortlich sein soll, ist festgenommen worden. Dies gibt die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe bekannt. Der 37-jährige Deutsche Holger G. werde dringend verdächtigt, ebenfalls Mitglied der terroristischen Vereinigung "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) zu sein. Auch die mögliche Tatbeteiligung des Beschuldigten an den Morden werde untersucht, hieß es. Die Wohnung des Verdächtigen wurde durchsucht. Die NSU wird für die Morde an acht Türken und einem Griechen zwischen 2000 und 2006 sowie für den Mord an einer Polizistin in Heilbronn im April 2007 verantwortlich gemacht.
Holger G. habe seit Ende der 90er Jahre mit den übrigen Mitgliedern der NSU in Kontakt gestanden, teilte die Bundesanwaltschaft mit. Er habe deren fremdenfeindliche Einstellung geteilt und sei in dieselben rechtsextremistischen Kreise eingebunden gewesen. Der 37-Jährige werde beschuldigt, den drei untergetauchten Mitgliedern der NSU 2007 seinen Führerschein und vor etwa vier Monaten seinen Reisepass zur Verfügung gestellt zu haben. Zudem habe er mehrfach Wohnmobile für die Gruppe angemietet. Eines der Fahrzeuge sei bei dem Polizistenmord in Heilbronn benutzt worden.
Der Bundesgerichtshof erließ derweil Haftbefehl gegen die 36-jährige Beate Z. Es bestehe ein dringender Verdacht "der Gründung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung", teilte die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe mit. Außerdem soll die Frau die Wohnung ihrer beiden Komplizen in Eisenach in Brand gesetzt haben, um Beweismittel zu vernichten. Darüber hinaus gebe es weiterhin einen Anfangsverdacht, dass sie selbst unmittelbar an der Mordserie beteiligt war.
Straftaten werden überprüft
Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich sprach infolge dessen erstmals von "Rechtsterrorismus" in Deutschland. "Es sieht so aus (...), als ob wir es tatsächlich mit einer neuen Form des rechtsextremistischen Terrorismus zu tun haben", sagte der CSU-Politiker in Berlin. Er kündigte an, dass alle Straftaten in Thüringen seit 1998, die keinem Täter zuzuordnen seien, dahingehend überprüft würden, ob sie den vier Verdächtigen zuzuordnen seien. Er gehe davon aus, dass es schon in der kommenden Woche erste Ermittlungsergebnisse der Bundesanwaltschaft gebe.
Kanzlerin Angela Merkel äußerte sich besorgt über die jetzt öffentlich gewordene Mordserie. Sie sprach von erschreckenden Erkenntnissen: "Es ist ein außergewöhnliches Ereignis, dem man mit größter Sorgfalt nachgehen muss." Die Vorgänge ließen Strukturen erkennen, "die wir uns so nicht vorgestellt haben. Deshalb heißt es, immer wieder wachsam sein, gegen jede Form von Extremismus. In diesem Fall wahrscheinlich auf Extremismus von der rechten Seite." Sie hoffe, dass die Untersuchungen bald so abgeschlossen seien, dass es vollkommene Klarheit über die Hintergründe der Taten und Täter gebe, so Merkel.
Beate Z. will Kronzeugenreglung
Zuvor war bekannt geworden, dass die einzig Überlebende des Trios, Beate Z., offenbar eine Kronzeugenregelung für sich forderte. Beate Z. wolle nur aussagen, wenn ihr zuvor als Kronzeugin Strafmilderung zugesichert werde, berichtete die "Bild am Sonntag" unter Berufung auf Ermittlerkreise. Gegen die 36-jährige Thüringerin wird wegen des Verdachts der schweren Brandstiftung sowie der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in Tateinheit mit Mord und versuchtem Mord ermittelt. Berlins Innensenator Ehrhart Körting warnte jedoch davor, die Kronzeugenregelung anzuwenden. "Ich halte nach jetzigem Erkenntnisstand eine Debatte um Strafmilderung für politisch und rechtlich verfehlt", sagte der SPD-Politiker. "Politisch halte ich es für verfehlt, bei derartig schweren Straftaten - nämlich Morden aus ausländerfeindlichen, rassistischen Gründen - auch nur darüber nachzudenken, einem der Beteiligten Strafmilderung zukommen zu lassen."
Z. und die zwei Männer, die sich vor einer Woche erschossen hatten, waren den Behörden bereits in den 90er Jahren wegen Verbindungen zum rechtsextremen "Thüringer Heimatschutz" bekannt, verschwanden dann aber aus dem Blick der Verfassungsschützer. Im Jahr 1998 tauchten die drei Rechtsextremisten ab, der "BamS" zufolge hatte Z. aber auch danach mehrmals Kontakt zu V-Leuten des Verfassungsschutzes. Trotzdem habe sie unter falschem Namen leben können. "Das ist versandet", sagte ein Ermittler der Zeitung.
Im abgebrannten Haus der Gruppe im sächsischen Zwickau fanden die Ermittler nicht nur die Pistole, mit denen die Döner-Morde verübt wurden, sondern auch DVDs. Darauf bekennen sich die beiden Männer dem "Spiegel" zufolge zu den Morden und zu einem Nagelbombenanschlag in einer überwiegend von türkischen Einwanderern bewohnten Straße in Köln 2004. Sie kündigten weitere Anschläge an. Zudem erklärten sie, ihre NSU-Gruppe sei ein "Netzwerk von Kameraden mit dem Grundsatz Taten statt Worte". Nach Erkenntnissen der Ermittler sollten die DVDs an Medien und islamische Kulturzentren verschickt werden. Die Linke in Sachsen-Anhalt erhielt nach eigenen Angaben eines der Bekennervideos. Die DVD habe in dieser Woche im Briefkasten eines Parteibüros gelegen, sagte Parteisprecherin Anke Lohmann. Die DVD sei Innenminister Holger Stahlknecht übergeben worden.
"Legale illegale Papiere" gefunden
Die Rolle des Verfassungsschutzes in dem Fall ist noch unklar. Etliche Politiker fragten, warum die Rechtsextremen, die unter Beobachtung standen und schon 1998 in Jena als Bombenbauer auffielen, danach aus dem Blickfeld verschwanden und so lange unbehelligt Morde, Banküberfälle und andere Straftaten verüben konnten. Das sei "sehr ungewöhnlich", sagte Friedrich. In Sicherheitskreisen wird spekuliert, die drei mutmaßlichen Täter könnten vom Verfassungsschutz eine neue Identität erhalten und dann als Verbindungsleute in der rechten Szene geführt worden sein. Der Innenminister sagte, nach dem bisherigen Stand der Ermittlungen gebe es "keinen Kontakt zwischen dem Bundesamt für Verfassungsschutz und diesen Personen".
Nach Informationen der "Bild"-Zeitung wurden bei der Durchsuchung des in Zwickau explodierten Hauses "legale illegale Papiere" der Verdächtigen gefunden. Die Zeitung beruft sich auf Informationen aus Sicherheitskreisen. Der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Hans-Peter Uhl, sagte der Zeitung: "Solche Papiere erhalten im Regelfall nur verdeckte Ermittler, die im Auftrag des Nachrichtendienstes arbeiten und vom Nachrichtendienst geführt werden. Das heißt: die in enger Zusammenarbeit mit dem Nachrichtendienst agieren." Friedrich sagte dazu: "Alleine die Tatsache, dass seit 1998 die Personen nicht aufgefallen sind, auch in Kontrollen nicht, legen die Wahrscheinlichkeit nahe, dass es sich entweder um sehr perfekte Fälschungen oder um echte Papiere handelt."
Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger pocht auf eine zügige und umfassende Aufklärung der Mordserie. "Die Informationen, die bisher vorliegen, zeigen ein erschütterndes Bild", sagte die FDP-Politikerin. "Es muss mit Nachdruck und allen zur Verfügung stehenden rechtsstaatlichen Mitteln aufgeklärt werden, welche Dimension rechtsextreme Netzwerke und Organisationen in Deutschland haben", so die Ministerin. "Wir brauchen ein klares Bild." Die Rolle des Verfassungsschutzes und von V-Leuten werde in den entsprechenden Gremien auf Bundes- und Länderebene aufgeklärt, so die Ministerin.
Parlamentarisches Kontrollgremium eingeschaltet
Der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums für die Geheimdienste, Thomas Oppermann von der SPD, sagte der "Bild am Sonntag", er werde in der kommenden Sitzungswoche zu einer Sondersitzung einladen. "Ich will wissen, was die Behörden wussten und wie solche Straftaten in Zukunft besser verhindert werden können." Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele forderte, die Landesämter für Verfassungsschutz in Thüringen und Sachsen müssten klären, ob sie das Abdriften des Trios "in den Terror" verschlafen hätten.
Der CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach sagte der ARD: "Es ist schon erstaunlich, dass die Gruppe (...) über zehn Jahre lang untergetaucht bleiben konnte, obwohl sie bereits Ende der 90er Jahre im Visier der Behörden war, jedenfalls des Verfassungsschutzes." Der CSU-Innenexperte Hans-Peter Uhl sagte der "Mitteldeutschen Zeitung: "Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich aus all dem noch ein Verfassungsschutzproblem ergibt." Möglicherweise habe der Geheimdienst mehr über die Hintergründe der Taten gewusst, als bisher bekannt sei.
Auch Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger sprach von Terrorismus. Die Täter hätten mindestens 13 Jahre lang über das Bundesgebiet verteilt schwere Straftaten begangen, sagte der SPD-Politiker. "Da ist die Grenze zum Terrorismus sicherlich erreicht, wenn nicht sogar überschritten." Auch der niedersächsische Verfassungsschutz, Grüne und Linke warnten vor einer völlig neuen Dimension rechter Gewalt. Unions-Fraktionschef Volker Kauder zog in der "Bild"-Zeitung einen Vergleich zum Terrorismus der Roten Armee Fraktion (RAF). Der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Peter Altmaier, sagte: "Wir müssen ähnlich wie damals bei der RAF dafür sorgen, dass nicht nur die Täter dingfest gemacht werden, sondern dass auch die Unterstützer- und Sympathisantenszene ins Visier der Ermittlungsbehörden kommt."
Warnung vor neuer Dimension der Gewalt
Der Berliner Rechtsextremismus-Experte Bernd Wagner sieht ein hohes Gewaltpotenzial bei militanten Rechtsextremisten. "Dabei geht es auch um Morde", sagte er. Von einem rechtsterroristischen Netzwerk in Deutschland geht Wagner nicht aus. "Gleichwohl gibt es Gruppen, die daran arbeiten, terrorismusfähig zu werden." Sie agierten im Untergrund und versuchten häufig, sich für einen "militärisch organisierten Partisanenkampf" Waffen und Sprengmittel zu beschaffen.
Der Zentralrat der Juden forderte eine "neue Entschlossenheit" im Kampf gegen die rechte Szene - sowie ein NPD-Verbot. "Dieses politische Flaggschiff der Rechtsradikalen muss endlich politisch und juristisch versenkt werden", sagte Präsident Dieter Graumann dem "Handelsblatt". Unterstützung für diese Forderung kam unter anderem von Schleswig-Holsteins SPD-Chef Ralf Stegner. Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, sagte in der ARD: "Es gibt in Deutschland leider immer noch keine richtige Debatte über Rassismus und rassistischen Terror. Wir müssen umgehend diese Debatte aufnehmen.
Linke-Chef Klaus Ernst bezeichnete es als einen Skandal, dass in Deutschland über viele Jahre die Gefahr rechtsradikaler Gewalt unterschätzt wurde. Im Gespräch mit n-tv.de machte Ernst auch Bundeskanzlerin Merkel persönlich verantwortlich für die Verharmlosung der Gefahr von Rechts. "Seit ihrem Amtsantritt werden die finanziellen Mittel für den Kampf gegen rechtsextremistische Gewalt stetig zusammengestrichen. Merkel fehlt offenkundig die politische Sensibilität für das Thema", sagte Ernst.
Der aktuelle Fall organisierter rechtsextremistischer Gewalt sollte nach Ernsts Meinung auch eine "breite gesellschaftliche Debatte über Ursachen und notwendige Konsequenzen daraus" hervorrufen. Der Chef der Linken forderte bei n-tv.de "keine Tabuzonen, auch nicht in der Frage, ob manche Ermittlungsbehörden auf dem rechten Auge blind sind". "Was wir brauchen, ist eine neue Demokratieoffensive."
Die Türkische Gemeinde in Deutschland, der Türkische Bund Berlin-Brandenburg und Parteipolitiker erinnerten an die Opfer der Mordserie. Zu der Mahnwache vor dem Brandenburger Tor in Berlin kamen auch die Grünen-Vorsitzenden Claudia Roth und Cem Özdemir, der TGD-Bundesvorsitzende Kenan Kolat und der Generalsekretär des Zentralrates der Juden, Stephan Kramer, wie Roths Referent sagte. Nach seinen Schätzungen nahmen rund 200 Menschen teil, die Polizei sprach von etwa 50.
Quelle: ntv.de, dpa/AFP/rts