
Wenige Länder sind so chaotisch wie Nigeria. Explosionen von Gaspipelines etwa sind ein altbekanntes Phänomen.
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Der EU scheint es zu gelingen, ihre Außengrenzen wieder unter Kontrolle zu bringen. Künftig sollen nur noch politisch Verfolgte nach Europa kommen – und Menschen, die dem Kontinent nutzen.
Der Einsatz zeigt Wirkung. Nach dem EU-Türkei-Deal baut Europa seine Kooperationen mit Staaten wie Libyen, Niger und Tschad aus, und die Ankunftszahlen von Flüchtlingen sinken nun auch in Italien. Ein bedeutender Schritt beim Versuch, auch auf der sogenannten zentralen Mittelmeerroute die Kontrolle über die EU-Außengrenzen zurückzugewinnen. Was bedeutet das für die Menschen, die bereit sind, ihr Leben zu riskieren, um nach Europa zu kommen?

In Bangladesch kommt es immer wieder zu Anschlägen von Islamisten. Doch auch die Sicherheitskräfte sind berüchtigt.
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Auf die gern als "Abschottung" bezeichnete Grenzsicherung will Europa eine Auslese folgen lassen. Menschen, die gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention einen Anspruch auf Asyl haben, sollen möglichst schnell und auf sicheren Wegen von Afrika nach Europa gelangen. Auch für sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge sollen legale Zugänge entstehen, allerdings mit Bedingungen.
Kanzlerin Angela Merkel fasste diese in einem Interview mit der "Taz" zusammen: "Bei Menschen, die zu uns aus wirtschaftlichen Gründen kommen wollen, geht es natürlich darum, dass diejenigen kommen, die wir brauchen", sagte sie und fügte hinzu: "Pflegekräfte beispielsweise."
Der Weg ist womöglich noch lang, aber gelingt es, den Plan umzusetzen, werden Hundertausende auf ihrem Weg stranden. Europa setzt auf eine extrem harte Politik, nicht nur, weil Flüchtlinge in Staaten wie Libyen unmenschlich behandelt werden. Ein Blick auf die häufigsten Herkunftsländer zeigt auch: Diese Menschen haben viel mehr Fluchtgründe, als es der Begriff "Wirtschaftsmigranten" suggeriert. Eine Übersicht.
Nigeria – Armut und ethnisch-religiöse Fäden
Im ersten Halbjahr 2017 kamen 17 Prozent der Flüchtlinge, die in Italien an Land gingen, aus Nigeria. Mehr als aus jedem anderen Land. Die sogenannte Gesamtschutzquote in Deutschland lag bei 15,2 Prozent. Das heißt: Theoretisch darf nur jeder Siebte bleiben.
Armut ist ein naheliegender Grund, das Land zu verlassen. Zwar ist Nigeria für seine Superreichen bekannt – doch sie sind eine kleine Schicht, die von den großen Ölvorkommen des Landes profitiert. 62,6 Prozent der knapp 170 Millionen Nigerianer leben nach Angaben des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) unter der Armutsgrenze. Im bevölkerungsreichsten Land Afrikas ereignet sich eine der größten humanitären Krisen des Kontinents. Aber nicht nur das.
Diverse Konflikte erschüttern Nigeria. Dazu gehören der Kampf der Regierung gegen die Islamisten-Gruppe Boko Haram und gegen einflussreiche Milizen im ölreichen Niger-Delta. Auch Auseinandersetzungen zwischen Christen und Muslimen, Sunniten und Schiiten führen immer wieder zu Toten. In der Region Biafra gibt es seit dem Bürgerkrieg Ende der 1960-Jahre wieder Unabhängigkeitsbestrebungen, die staatliche Gewalt provozieren.
Human Rights Watch schreibt in seinem jüngsten Jahresbericht von 2,5 Millionen Binnenvertriebene – ohne Zugang zu Essen, Unterkunft, Bildung und Medizin. Der Nichtregierungsorganisation zufolge sind sie auch vor Gewalt nicht sicher. Im Jahresbericht von Amnesty International ist viel von staatlicher Gewalt die Rede. "Die Sicherheitskräfte waren für außergerichtliche Hinrichtungen, Verschwinden lassen und andere schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich", heißt es da. Folter und andere Misshandlungen durch Polizei und Militär stünden weiterhin auf der Tagesordnung.
Bangladesch – brutale Sicherheitskräfte und vergiftetes Trinkwasser
Aus Bangladesch kamen im ersten Halbjahr 10 Prozent der Flüchtlinge, die in Italien landeten. 9,8 Prozent, die in Deutschland Asyl beantragten, erhielten einen Schutzstatus.
Die Armut ist zumindest statistisch nicht so dramatisch wie in Nigeria. Laut UNDP leben 31,5 Prozent der rund 160 Millionen Bangladescher unter der Armutsgrenze. Doch auch hier gibt es andere Fluchtgründe. "Die Bangladescher wurden Zeuge einer Flut an gewalttätigen Angriffen auf säkulare Blogger, Akademiker, Aktivisten für Schwulenrechte, Ausländer und Mitglieder religiöser Minderheiten", heißt es im Jahresbericht von Human Rights Watch. Angeblich missbraucht die amtierende Regierung diese Taten, zu denen sich Islamisten-Gruppen bekannt haben, um gegen die Opposition vorzugehen. Es kam zu großangelegten Verhaftungswellen.
In Europa sorgen dank diverser Medienberichte zudem die verheerenden Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie für Aufsehen. Auch die ökologischen Probleme sind gewaltig. So trinken laut Human Rights Watch 20 Millionen Bangladescher Trinkwasser, das die nationalen Grenzwerte für Arsen überschreitet.
Guinea – Gewalt gegen Frauen und Andersdenkende
9 Prozent der Flüchtlinge, die im ersten Halbjahr über das Mittelmeer nach Italien gekommen sind, stammen aus Guinea. Die Gesamtschutzquote ist mit 13,5 Prozent niedrig.
Das blühendste Geschäft in dem westafrikanischen Staat ist der Drogenhandel. Guinea gilt als Drehkreuz für Kokain aus Südamerika. Reichtum für einige, Korruption und Misswirtschaft für den Rest sind das Ergebnis. Nach Angaben von UNDP leben 55,2 Prozent der knapp 12 Millionen Guineer unter der Armutsgrenze.
Aus Guinea gibt es diverse Berichte über staatliche Willkür. Da ist mal von exzessiver Gewalt gegen friedliche Demonstranten die Rede, mal von Folter und immer wieder von Straffreiheit für die Täter. Human Rights Watch räumt zwar ein, dass sich die Aufklärung durch die Justiz verbessere, die Nichtregierungsorganisation rückt aber die Gewalt gegen Frauen in den Vordergrund. Guinea gehört nicht nur zu den Ländern mit der höchsten Rate an Kinderehen, obwohl diese mittlerweile strafbar sind - 60 Prozent der Mädchen heiraten vor dem 18. Lebensjahr. Auch der Kampf der Regierung gegen die Genitalverstümmelung kommt nur schleppend voran. Schätzungen zufolge müssen 97 Prozent der Mädchen und Frauen zwischen 15 und 49 den brutalen Akt über sich ergehen lassen.
Elfenbeinküste – Haft ohne Verfahren und Jugendgangs
Von der Elfenbeinküste stammen 9 Prozent der Flüchtlinge, die im ersten Halbjahr in Italien angekommen sind. Theoretisch darf nicht einmal jeder Zehnte, der in Deutschland Asyl beantragt, bleiben. Die Gesamtschutzquote liegt bei 6 Prozent.
An der Elfenbeinküste leben laut UNDP noch 48,9 Prozent der rund 24 Millionen Staatbürger unter der Armutsgrenze. Doch das Land gilt seit heftigen politischen Unruhen im Jahr 2011 als politisch verhältnismäßig stabil. Die Wirtschaft wuchs mit 8,9 Prozent im Jahr 2015 und 7,9 Prozent im Jahr 2016 kräftig.
Laut Human Rights Watch haben sich die wirtschaftlichen Entwicklungen auch auf die Rechtstaatlichkeit und Sicherheit ausgewirkt. Allerdings warten der Organisation zufolge noch Tausende Opfer politischer Gewalt auf Gerechtigkeit. Zugleich sitzen Tausende, die an den Unruhen von 2011 beteiligt waren, ohne Urteil in Haft.
Human Rights Watch führt in seinem Jahresbericht ausdrücklich die Bedrohung durch Jugendgangs auf. Die Regierung bezeichnete die jungen Beschaffungskriminellen gern als "Mikroben", meidet derartige Formulierungen nach diversen Fällen der Lynchjustiz aber. Laut Human Rights Watch fehlt es weiterhin an einer Strategie im Kampf gegen die sozialen, psychologischen und ökonomischen Ursachen der Jugendgewalt.
Gambia – ein politisches Trümmerfeld
6 Prozent der Flüchtlinge, die im ersten Halbjahr Italien erreichten, kamen aus Gambia. Die Chance auf Asyl oder einen anderen längerfristigen Status in Deutschland sind verschwindend gering. Die Gesamtschutzquote liegt bei 4,3 Prozent.
Die Zahl der Menschen, die in Gambia unter der Armutsgrenze liegen ist hoch. Laut UNDP sind es 48,4 Prozent der 1,7 Millionen Gambier. In dem westafrikanischen Land herrschte über Jahrzehnte der Despot Yayah Jammeh. Unter seiner Regentschaft litt nicht nur die Wirtschaft. Die Einschüchterung politischer Gegner und Folter standen auf der Tagesordnung.
Jammeh wurde Ende 2016 in Wahlen abgelöst. Gewissermaßen ist das Land ein politisches Trümmerfeld. "Die neue, demokratisch legitimierte Regierung unter Präsident Barrow und die gambische Zivilgesellschaft stehen vor großen Herausforderungen, das Land politisch und wirtschaftlich zu konsolidieren", heißt es beim Auswärtigen Amt. "Diese Phase wird noch längere Zeit andauern."
Europa scheitert schon an einer Lösung für Asylberechtigte
Auf absehbare Zeit wird es für die Menschen aus Ländern wie Nigeria und Gambia keine Lösung mehr für ihrer Misere geben. Es sei denn, sie wagen noch gefährlichere Fluchtrouten. Der Aufbau staatlicher und wirtschaftlicher Strukturen, die den Menschen eine Perspektive geben könnten, ist ein zäher Prozess. Bis es nennenswerte legale Fluchtmöglichkeiten gibt, Kontingente für Wirtschaftsmigranten, könnte es ebenfalls lange dauern. Die EU-Kommission ringt gerade darum, 40.000 zusätzliche Plätze für Asylberechtigte aus Afrika zu schaffen. Die Mitgliedstaaten scheitern allerdings schon jetzt daran, sich auf eine gerechte Verteilung der Menschen zu einigen, die bereits in Europa sind. Wie soll es da erst werden, wenn es um Menschen geht, denen laut Genfer Flüchtlingskonvention kein Schutz zusteht?
Der EU bleiben nicht viele Möglichkeiten: Das Elend aushalten, bis es nicht mehr auszuhalten ist. Oder wirklich etwas gegen die Fluchtursachen unternehmen. Das versprach Europa schon oft. Das verspricht Europa auch jetzt. Erfolge waren bisher nur in Einzelfällen zu beobachten.
Quelle: ntv.de