Jacqueline Diffrings Skulpturen Eine Hundertjährige mit Ecken und Kanten
09.02.2020, 18:25 Uhr
Jacqueline Diffring mit Bruder Anton 1938 in Berlin.
(Foto: Jacqueline Diffing Foundation )
Jacqueline Diffring wird auch mit 100 Jahren nicht müde, einzigartige Skulpturen zu kreieren. Die Künstlerin verarbeitet in ihren besonderen Werken auch ihre brüchige Biografie. Zu Deutschland hat sie heute ein schwieriges Verhältnis.
Klare Kanten sind ihr Ding. Jacqueline Diffring ist eine Jahrhundertkünstlerin und hat das Etikett gleich doppelt, weil sie gerade 100 Jahre alt geworden ist. Ihre abstrakten Skulpturen begegnen einem in Berlin auf dem Kurfürstendamm, im Eingang der französischen Botschaft, in privaten Gärten und Museen. Mit ihren Bronzen hebt sie ihren Gedankenkosmos stückweise in die Welt, verarbeitet Erlebtes. Die Plastiken haben kein Vorn, kein Hinten, sind von allen Seiten anders, verändern sich je nach Tageszeit und mit eigenen, täglichen Befindlichkeiten - das macht sie nachhaltig faszinierend. Wer aber ist die Person Jacqueline Diffring?
Ihre 100-jährige Biografie steckt voller Brüche. Die erste Ausgrenzung erlebt sie in ihrer Geburtsstadt Koblenz mit 12 Jahren. Weil sie Halbjüdin ist, wird sie kurz vor einer Aufführung vom Schulchor ausgeschlossen. Ihr Vater ist Solomon Pollack, ein angesehener Kaufhausbesitzer. Ihre Mutter, Bertha Diffring, leidet an Tuberkulose, ist häufig in der Schweiz zur Kur. "Das Emotionale war von der Krankheit überlagert. In den Arm genommen wurde sie selten, Jacqueline und ihre Geschwister, Anton und Ruth, sind von einer Gouvernante großgezogen worden", erzählt Joachim Becker ntv.de. Er begleitet die Künstlerin seit den 80er-Jahren als Galerist und leitet seit 2007 die Jacqueline-Diffring-Stiftung in Berlin. "Sie gingen jedoch alle regelmäßig ins Theater, Ballett, Opern und Konzerte, was sie sehr geprägt hat. Das liberale, freie Elternhaus war die Basis für ihre künstlerische Arbeit."
Flucht im letzten Moment
Alle Geschwister werden 1937 ins vermeintlich sichere Berlin geschickt. Sie lernen an der privaten Reimann-Schule für Kunst und Kunstgewerbe in Schöneberg und leben in einer Villa im Grunewald ein unbeschwertes Leben. Anton studiert Schauspiel, Ruth Fotografie und Jacqueline Malerei. Die drei feiern Feste, tanzen auf Bällen, wie die Künstlerin in einem Fotoalbum aus der Berliner Zeit zeigt. Doch die Judenverfolgung holt sie auch hier ein. 1939 können sie im letzten Moment nach London emigrieren. "Unsere Eltern hatten rechtzeitig erkannt, dass es schwierig wurde, und uns nach England geschickt", erinnert sich Jacqueline Diffring in einem Filmporträt.
Die Familie zersplittert: Der jüdische Vater wird bei Freunden auf dem Land versteckt, gilt offiziell als verschwunden. Da die Mutter Deutsche und arischer Herkunft ist, kann sie ihn heimlich verpflegen. "Der Bruder strebte eine Schauspielerkarriere an und wurde schnell in Amerika engagiert, wo er blieb. Zu Anton hatte Jacqueline eine enge, innige Verbindung bis zu seinem Tod. Er war jüdisch und homosexuell, wurde also doppelt verfolgt", erzählt Joachim Becker. Ironischerweise muss Anton Diffring - blond und blauäugig - später in Filmen oft Nazis spielen.

Die Nachbildung ihres Ateliers in Châteauneuf de Grasse - permanent zu sehen im Schaufenster des Mittelrhein Museums, Koblenz.
(Foto: Jacqueline Diffing Foundation )
Die beiden Schwestern arbeiten, um zu überleben, auf dem Londoner Fischmarkt, "hauten Fischen die Köpfe ab". Ruth heiratet drei Jahre später, Jacqueline ist auf sich selbst gestellt. "Als Mittzwanzigerin wurde sie psychisch krank, bekam Depressionen und musste sich behandeln lassen", fasst Becker die Zeit zusammen. Ein Arzt rät ihr, das Kunststudium, das sie in Berlin angefangen hatte, wieder aufzunehmen.
Bildhauerei in London
Zunächst macht sie eine Ausbildung als Kunstlehrerin, schreibt sich dann aber für Bildhauerei in der Chelsea School of Arts in London ein. Dort trifft sie Henry Moore, der ihr wichtigster Lehrer wird. "Der weltberühmte Bildhauer besuchte die Bildhauerklassen, riet den Studenten, sich an Naturformen zu orientieren und wurde auf Jacqueline Diffring aufmerksam. Sie ging mit ihm in die Diskussion, warf ihm vor, dass er seine Figuren gefällig ausführt und den Betrachter mit weichen, runden Formen verführt", berichtet Joachim Becker. Diffring selber sagte über ihre Auseinandersetzungen mit Henry Moore: "Er hat was Monumentales und Architekturales, das hat mich beeinflusst. Seine Themen hingegen nicht, er macht viele Nudes." Sie setzt Linien und Kanten dagegen, das Lineare wird in ihren Skulpturen immer wichtiger.

"Looking through" - Skulptur in einem privaten Garten in Südfrankreich .
(Foto: Jacqueline Diffing Foundation )
"Ich drücke das aus, was ich erlebt habe. Beim Arbeiten denke ich nicht an mich, aber an das Thema." Es geht nicht um neue Formen, sondern um das Einkreisen, so entstehen zu einem Gedanken verschiedene Skulpturen. Aus einer gestaltlosen Masse Ton baut sie mit ihren Händen etwas auf, ohne zu wissen, wohin es geht. Die Zeichnungen fertigt die Künstlerin an, wenn die Skulptur fertig ist, auch weil sie an der architektonischen Form interessiert ist. Als Material wählt sie Bronze - es steht für Beständigkeit.
Zwischen England und Deutschland
Beständigkeit findet sie in England nicht und kehrt 1954 nach Koblenz zurück, weil sie eine tiefe Verantwortung für das Schicksal ihrer Eltern fühlt. Dabei fällt ihr das Loslassen in England schwer, sie hat große Angst, nach Deutschland, in das Land ihrer Verfolger, zurückzukehren. "Sie arbeitete als Bildhauerin weiter, was damals ein Statement war, heiratete, doch die Ehe scheiterte. Auch weil Jacqueline erfuhr, dass ihr Mann in der NSDAP gewesen war. Mit inzwischen 40 Jahren hatte sie einige Therapien hinter sich und sehnte sich nach Weite und flachem Land", sagt Joachim Becker über Diffrings Rückkehr nach Deutschland. Weite und Ruhe findet sie schließlich 1960 in Frankreich, zunächst an der Loire, bevor sie sich in der Nähe von Grasse in Südfrankreich endgültig niederlässt. Dieses Dasein nur für sich, nur Himmel und Erde zu sehen, ist der Nährboden für ihre Kunst.
"Heute könnte ich nicht mehr in Deutschland leben, auch wenn es sich verändert hat. Das ist ein Geschehnis, das nicht mehr wegzudenken ist. Es ist immer noch da. Da war dieses hochkulturelle Land und was dann unter Hitler geschah", sie sucht nach Worten. "Ich habe jedes Verständnis für das Land vollkommen verloren. Und ich kann mir vorstellen, dass es morgen wieder passieren könnte ", resümiert Jacqueline Diffring. Ihre Themen sind autobiografisch.
Die Gleichheit der Menschen steht für die Künstlerin über allem. Die Idee, dass sie es als Bildhauerin schwer haben könnte, weil sie eine Frau ist, kommt ihr nie. Sie selber fördert junge Bildhauerinnen und Bildhauer mit der 2007 gegründeten Jacqueline Diffring Foundation. Dabei ist es ihr egal, welches Geschlecht jemand hat. Joachim Becker beschreibt die Künstlerin heute so: "Sie ist eine völlig frei denkende Frau, es geht um Inhalte, small talk gibt es bei ihr nicht, mit ihr ist jeder sofort in einem Thema. Das klingt jetzt so, als sei sie eine strenge Person, das ist sie gar nicht, denn sie tanzt leidenschaftlich." Jeden Tag um 17 Uhr gönnt sich die zarte, energiegeladene Frau ein Glas Champagner.
- Hommage an Jacqueline Diffring mit Centenary in der Galerie Florian Schönfelder bis zum 14. März, Fasanenstraße 28, 10719 Berlin
- Ein Arbeitsraum. Denkraum. Lage. Im Schaufenster des Mittelrhein Museum ist Jacqueline Diffrings Atelier aus Châteauneuf de Grasse rekonstruiert. Permanent zu besichtigen. Zentralplatz 1, 56068 Koblenz
Quelle: ntv.de