Fatale Droge erobert Europa "Ein Salzkorn reicht, um Menschen zu töten"


Experten sorgen sich vor allem um die Konsumenten in der offenen Drogenszene.
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Experten schlagen Alarm: In Europa befindet sich eine Droge auf dem Vormarsch, die noch 100-mal stärker wirkt als Heroin - Nitazen. Das synthetische Opioid treibt die Zahl der Drogentoten schon jetzt in die Höhe. Auch Deutschland muss sich auf eine Ausbreitung vorbereiten - doch da liegt das Problem.
Beunruhigend wurde es bereits 2022. Estland und Litauen brachten drogenbedingte Todesfälle immer häufiger mit einer neuen Gruppe synthetischer Rauschmittel in Verbindung. Im vergangenen Sommer rückten die Warnungen dann näher. Die Gesundheitsbehörde im britischen Birmingham bemerkte eine ungewöhnlich hohe Anzahl an Drogenkonsumenten, die an einer Überdosis starben. Der Verdacht: Hinter dem Anstieg steckt jene Substanz, die schon im Baltikum auffiel - Nitazen. Inzwischen wurde die Droge auch in Belgien, Slowenien, Lettland, Irland, Norwegen und Frankreich nachgewiesen. Damit befindet sich mitten in Europa eine Droge auf dem Vormarsch, die noch 100-mal stärker wirkt als Heroin.
Bei Nitazen handelt es sich, wie auch bei Heroin, um ein Opioid. Während Heroin aus Schlafmohn extrahiert wird, sind Nitazene synthetische Opioide. Sie werden ausschließlich im Labor hergestellt. Die Pharmaindustrie hatte Nitazen in den 1950er-Jahren als Schmerzmittel entwickelt, zugelassen wurde die Substanz allerdings nie.
Für Konsumentinnen und Konsumenten unterscheidet sich Nitazen erst einmal kaum von anderen Opioiden wie eben Heroin oder Fentanyl. Es wird ebenso injiziert, inhaliert oder als Tablette geschluckt. Die Wirkung ist kurz und intensiv - laut Weltgesundheitsorganisation werden "mentale Prozesse, einschließlich Wahrnehmung, Bewusstsein, Kognition oder Stimmung und Emotionen", beeinflusst. Es kommt zu Euphorie und Sedierung, einer Art Wach-Schlaf-Bewusstsein.
Gefahr einer Überdosierung riesig
Der große Unterschied zu anderen Opioiden zeigt sich schließlich erst nach der Einnahme. Denn Nitazen ist enorm potent. Es wirkt bis zu zehnmal stärker als Fentanyl und bis zu 100-mal stärker als Heroin. Eine Überdosierung der Substanz kann zu Atemdepressionen und Atemstillstand führen. "Bei Nitazen reicht bereits ein Salzkorn, um einen Menschen zu töten", erklärt Daniel Deimel, Suchtforscher an der Technischen Hochschule Nürnberg, im Gespräch mit ntv.de. Zum Vergleich: Die letale Dosis von Heroin liegt bei 200 Milligramm - ein Salzkorn wiegt hingegen zwischen circa 0,05 und 0,7 mg. Diese extrem niedrige Dosis können Konsumentinnen und Konsumenten kaum noch kalkulieren, wodurch die Gefahr einer Überdosierung enorm ist.
Das scheint längst immer öfter zu passieren. Laut dem aktuellen EU-Drogenbericht wurde in vielen EU-Ländern ein starker Anstieg von Todesfällen und Vergiftungen durch Nitazene registriert. Dabei dürfte die Dunkelziffer sogar noch deutlich höher liegen, da "Nitazene und ähnliche Substanzen in einigen Ländern zurzeit bei routinemäßigen postmortalen toxikologischen Untersuchungen nicht nachgewiesen werden, sodass die Zahl der mit ihnen verbundenen Todesfälle möglicherweise unterschätzt wird".
Die anfängliche Beunruhigung ist längst ernsthafter Sorge gewichen. "Was die drogenbedingten Todesfälle angeht, ist das Auftauchen von Nitazenen wahrscheinlich die größte neue Herausforderung, die größte neue Angst, die wir haben", sagte der ehemalige Drogenbeauftragte der britischen Regierung, Mike Trace. Nitazene könnte Europas ohnehin "wachsendes Opiodproblem" weiter verschärfen, heißt es im Drogenbericht. Denn die Substanz gewinnt in rasendem Tempo an Bedeutung: Sechs der sieben neuen synthetischen Drogen, die dem EU-Frühwarnsystem im vergangenen Jahr gemeldet wurden, waren Nitazene. Das Drogendezernat der Vereinten Nationen sprach in diesem Zusammenhang von der "aktuell größten Bedrohung".
Nitazen könnte Opium-Lücke schließen
Nun ist die Ausbreitung synthetischer Drogen wie Nitazen zwar beachtlich, im Vergleich mit Heroin spielen sie allerdings noch immer eine deutlich untergeordnete Rolle. Das stellt auch der EU-Drogenbericht klar: Die aus Schlafmohn gewonnene Substanz ist nach wie vor das am häufigsten konsumierte illegale Opioid, synthetische Alternativen tauchen im Vergleich eher selten auf. Auch in Deutschland führen Heroin und Morphin weiterhin mit Abstand zu den meisten Todesfällen unter Drogenkonsumenten. Von den 2227 Drogentoten im vergangenen Jahr starben mehr als 700 nach dem Konsum der Substanzen, wie Zahlen des Bundeskriminalamtes zeigen. Das synthetische Opioid Fentanyl war demnach in 18 Fällen die Todesursache. Nitazen tauchte in den Statistiken bisher nicht auf.
Das allerdings könnte sich schnell ändern. Zum einen sei es unwahrscheinlich, dass sich die Ausbreitung von synthetischen Opioiden wie Nitazen auf einzelne Länder beschränkt, da "der Drogenmarkt sehr global" sei, erklärt Deimel. Zum anderen könnten die Substanzen eine aufkeimende und wachsende Lücke schließen. So brach die weltweite Opium-Produktion im vergangenen Jahr um knapp 74 Prozent ein, nachdem die Taliban den Anbau von Schlafmohn in Afghanistan verboten hatten. Das Land lieferte bisher den Großteil des in Europa vorkommenden Heroins. Satellitenaufnahmen zeigten, dass die Mohn-Anbauflächen seit der Machtübernahme der Taliban um 85 Prozent geschrumpft sind.
Die Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht der EU geht davon aus, dass im vergangenen Jahr Heroin aus Opium hergestellt wurde, das sich noch in den Lagern befand. Diese könnten jedoch bald aufgebraucht sein. "Der Engpass [an Heroin] wird kommen. Und dann könnte es ein Problem geben", sagte Thomas Pietschmann von den Vereinten Nationen der dpa. Denn das Risiko sei groß, dass die Heroin-Konsumenten dann zu künstlich hergestellten Alternativen greifen - wie eben zu Nitazen.
Für Hersteller lukrativ
Zudem würden Händler und Produzenten die Verbreitung fördern, "denn das Geschäft mit synthetischen Opioiden ist durchaus lukrativ", sagt Deimel. So braucht es für die Herstellung keine Agrarwirtschaft und das Volumen, das geschmuggelt werden muss, ist wegen der hohen Potenz sehr gering. "Das lässt die Gewinnmargen in die Höhe schießen." Der Großteil des Nitazens auf dem europäischen Drogenmarkt stammt laut der Vereinten Nationen aus China. Wegen der geringen Herstellungskosten werde es schon jetzt häufig zum Strecken anderer Drogen genutzt. Dabei handelt es sich meist um Heroin - Nitazen wurde jedoch auch schon in Cannabisprodukten und Tabletten, die als Medikament beworben wurden, nachgewiesen.
Für Konsumenten wird es damit noch gefährlicher. Durch den unbeabsichtigten Konsum sind sie sich der Risiken nicht einmal bewusst, können kaum auf sie reagieren. In diesem Zusammenhang sorgte im vergangenen Jahr der Fall des 21-jährigen Dylan Rocha für Schlagzeilen. Der Musiker, der laut der BBC regelmäßig Heroin konsumierte, kaufte eben jene Droge über eine Anzeige auf der Plattform "Soundcloud". Dass das Heroin, das er erhielt, mit Nitazen gestreckt war, wusste er nicht. Er starb kurz nach dem Konsum. Die EU warnt in ihrem Bericht vor allem vor Fällen wie diesen. So könnten drogenbedingte Todesfälle durch "verfälschtes" Heroin in die Höhe schnellen.
Der Bericht weist "in diesem Zusammenhang" auf die Fentanyl-Krise in den USA hin. Seit Jahren führt die Substanz zu einer Massenverelendung von Abhängigen, jährlich sterben rund 70.000 Menschen an dem Konsum des Opioids. Dass es in Deutschland zu einer ähnlichen Situation kommen könnte, glaubt Suchtexperte Deimel jedoch nicht. So wurden in den USA viele Menschen aus der Mitte der Gesellschaft abhängig, weil ihnen viel zu hoch dosierte synthetische Opioide als Medikament verschrieben wurden. In einer zweiten Welle sind viele von ihnen dann auf Heroin umgestiegen, das mittlerweile wiederum fast komplett von Fentanyl verdrängt wurde. "Damit war die Ausgangslage in den USA eine ganz andere."
Verelendung in Deutschland nimmt zu
Und trotzdem trifft die Ausbreitung von synthetischen Opioiden wie Nitazen auch hierzulande auf eine prekäre Situation. So habe die Verelendung in der offenen Drogenszene deutlich zugenommen, erklärt Deimel. Das hänge auch mit verstärkten Krisen wie der Pandemie und den Fluchtbewegungen zusammen. Die Zahl der Drogentoten hat schon jetzt einen Rekordwert erreicht. "Selbst in den 1990er-Jahren, wo Heroin aufkam, hatten wir nicht solche Todeszahlen wie heute", sagt Deimel. "Wenn nun die Personengruppe der offenen Drogenszene dazu gebracht wird, synthetische Opioide einzunehmen, befürchten wir einen weiteren Anstieg an drogenbedingten Not- und Todesfällen."
Expertinnen und Experten drängen daher auf eine gute Vorbereitung, um den Schaden möglichst kleinzuhalten. Genau daran hapert es allerdings in Deutschland. "Wir brauchen zum Beispiel ein gutes Monitoring und Drugchecking in der offenen Drogenszene, um überhaupt verfolgen zu können, welche Drogen auf dem Vormarsch sind", sagt Deimel. Besonders wichtig seien daher auch Drogenkonsumräume. "Die gibt es allerdings nicht flächendeckend. Bayern verweigert sich zum Beispiel immer noch, das ist hochproblematisch."
"Ein Konzept gibt es nicht"
Ähnlich prekär sieht die Lage bei der Substitutionsbehandlung aus. "Während diese in Deutschland gerade einmal 50 Prozent aller Heroin-Konsumenten erhalten, sind es in Frankreich nahezu 80 Prozent." Um bei einer Überdosierung akut helfen zu können, müssten zudem Suchthilfe-Mitarbeiter, Streetworker oder auch Ordnungsdienst-Beamte mit dem Notfallmedikament Naloxon ausgestattet sein. "Das Mittel gehört zwar zur Kassenleistung, ist für die Ersthelfenden allerdings kaum verfügbar."
Schließlich geht um das grundsätzliche - eine Strategie. Was machen wir, wenn es in einer Kommune vermehrt Überdosierungen gibt? Wer warnt wen über welche Wege? Wie werden vulnerable Gruppen vorbereitet, wie Hilfseinrichtungen? Sollte die breite Öffentlichkeit informiert werden? Angesichts des raschen Vormarsches von Nitazen in Europa sollte Deutschland Antworten auf die naheliegendsten Fragen haben. "Doch das ist nicht der Fall", sagt Deimel. Die Schutzmauern bleiben unten - "ein Konzept gibt es nicht".
Quelle: ntv.de