Panorama

"Schon Probierkonsum gefährlich" Warum immer mehr Jugendliche medikamentensüchtig sind

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Jugendlichen werden immer häufiger starke Medikamente wie Benzodiazepine und Opioide verschrieben - oder sie konsumieren sie, um mit ihrem Alltag zurechtzukommen.

Jugendlichen werden immer häufiger starke Medikamente wie Benzodiazepine und Opioide verschrieben - oder sie konsumieren sie, um mit ihrem Alltag zurechtzukommen.

(Foto: imago images/Panthermedia)

Benzodiazepine und Opioide: Immer mehr Jugendliche in Deutschland nehmen Medikamente, obwohl sie diese medizinisch gesehen gar nicht brauchen. Medikamentensucht wird zu einem immer größeren Problem. Daraus wird, gemischt mit anderen Substanzen, ein gefährlicher Cocktail.

Drogenabhängige bewegen sich eckig und unkontrolliert durch die Straßen. Sie haben die "Zombie-Droge" Fentanyl genommen, ein starkes Schmerzmittel. Solche Szenen gehören hauptsächlich in den Großstädten der USA zum Straßenbild: in San Francisco, New York, Los Angeles oder Philadelphia.

Normalerweise ist das Mittel unter anderem für Krebspatienten gedacht. Es basiert auf künstlichen Opioiden und ist 50-mal stärker als Heroin. Fentanyl berauscht und betäubt, die Körperfunktionen werden heruntergefahren, die Muskeln werden steif. Wer es nimmt, kann in kurzer Zeit abhängig werden. Die gefährliche Droge ist in den USA sehr verbreitet, schon seit 20 Jahren. Mittlerweile breitet sich Fentanyl aber auch in Deutschland aus.

Insgesamt leiden derzeit laut Bundesgesundheitsministerium 2,3 Millionen Menschen in Deutschland an Medikamentensucht. Zum Vergleich: Von Alkohol sind etwa 1,6 Millionen Menschen abhängig. Besonders alarmierend: Unter den Medikamentensüchtigen sind immer mehr Jugendliche. Ärzte verschreiben ihnen immer häufiger Benzodiazepine, Schlafmittel und Opioide. 2021 wurden unter 18-Jährigen 3,4 Millionen Tagesdosen dieser Medikamente verordnet, so die Zahlen der gesetzlichen Krankenkassen. 2018 waren es noch eine Million Tagesdosen weniger.

Psychische Probleme nehmen zu

"Jugendliche konsumieren unterschiedliche Substanzen durcheinander", sagt Arthur Coffin, Leiter der "LogIn"-Suchtberatung im Berliner Stadtteil Charlottenburg-Wilmersdorf im ntv-Podcast "Wieder was gelernt". "Das sind eben diese Tabletten, Benzodiazepine oder auch Opioide."

Immer mehr Jugendliche nehmen die Mittel, kurz Benzos. Vor allem während der Corona-Pandemie haben sie mehr davon konsumiert. In der Lockdown-Zeit sind psychische Probleme wie Ängste und Depressionen bei Kindern und Jugendlichen auf bis zu 30 Prozent angestiegen, geht aus der Copsy-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf hervor.

Opioide sind Schmerzmittel, ein Beispiel ist Tilidin, besonders starke Mittel sind Morphin und auch Fentanyl. Tilidin ist laut Arthur Coffin gerade bei muslimischen Jugendlichen verbreitet, da es nicht als Droge, sondern als Medikament gilt - Drogen und Alkohol sind im Islam verboten.

Benzodiazepine gegen Leistungsdruck

Benzos werden normalerweise bei Angststörungen eingesetzt, sie gehören zu den psychoaktiven Medikamenten, wirken angstlösend, beruhigend und entspannen die Muskeln.

Die Jugendlichen nehmen entspannende, dämpfende Mittel, um zu funktionieren, sagt Coffin. "Es geht um Leistungsdruck in der Schule, Cybermobbing ist ein Riesenthema. Da passen diese Benzodiazepine wie die Faust aufs Auge." Auch in den schwierigen Lockdown-Zeiten haben sie geholfen, herunterzukommen.

Der Medikamentenmissbrauch ist längst in die Jugendkultur wie den Hip-Hop vorgedrungen. Künstlernamen wie der des US-amerikanischen Rappers Lil Xan verweisen auf die Beliebtheit des Mittels Xanax, auch ein Benzodiazepin. "Das wird in der Medizin sehr gern genommen, um Angststörungen und Unruhezustände, aber auch Panikstörungen zu lindern." Ein großes Thema bei Jugendlichen seien auch Schlafstörungen - früher eher vorwiegend ein Problem Erwachsener, so der Suchtberater.

"Kann böse nach hinten losgehen"

Wenige Male genommen, schon kommt man nicht mehr los: Opioide und Benzos, wie Valium, können nach nur zwei bis drei Wochen abhängig machen. Sie gelten weltweit als die Medikamente mit der höchsten Missbrauchsrate. Um die immer gleiche Wirkung zu haben, benötigt der Körper eine immer höhere Dosis.

"Selbst der Probierkonsum ist im Kontext von Benzodiazepinen gefährlich", warnt Experte Coffin im Podcast. "Der Körper ist nicht darauf eingestellt. Schon der Rauschzustand ist eine Form von Überdosierung. Wenn ich darüber gehe, kann ich lebensgefährliche Krampfanfälle bekommen oder in eine Psychose geraten. Mit Benzos zu experimentieren, kann wirklich ganz böse nach hinten losgehen."

Zusammen mit anderen Substanzen können die Medikamente zu einem tödlichen Cocktail werden: Die Wirkung der Mittel verstärkt einander. Wenn Benzos gleichzeitig mit Alkohol genommen werden, kann das zu einem Herz- oder Atemstillstand führen. Alkohol senke die Hemmschwelle, "im schlimmsten Fall kriegt man die Warnsignale des Körpers nicht mehr mit, während man konsumiert", erklärt Coffin. Das sei auch ein Problem bei langfristigem Gebrauch von Benzodiazepinen und Opioiden. Coffin warnt davor, die Gefahren von Alkohol zu unterschätzen. "Alkohol feiert ein Comeback", berichtet der Suchtberater.

Drogen auf Rezept

Die Medikamente werden von Ärzten verschrieben - ganz legal. Das ist sinnvoll für Kranke, die beispielsweise auf starke Schmerzmittel angewiesen sind, für Süchtige aber eine Gefahr. Die Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie kritisiert, dass viele Ärzte nicht genug nachfragen. Sie stehen aber auch immer mehr unter Druck. In den Praxen fehle oft die Zeit, sich intensiv mit den Patienten auseinanderzusetzen, sagt die Bundesärztekammer. Der Medikamentenmarkt mit etwa 10.000 Präparaten werde für die Ärzte immer unübersichtlicher.

Die Süchtigen werden kreativ: gehen zu unterschiedlichen Ärzten, um an ihr Mittel zu kommen oder fälschen Privatrezepte, die kein einheitliches Format haben.

Inzwischen können immer mehr Präparate ohne Rezept in der Apotheke gekauft werden, auch Beruhigungs- und Schlafmittel - das sind inzwischen knapp 40 Prozent aller verkauften Arzneimittel-Packungen, so die Bundesärztekammer.

Tabletten via Instagram

Die Jugendlichen kommen vorrangig über soziale Medien wie Instagram oder Telegram an die berauschenden Medikamente, weiß Coffin. "Sie verabreden sich über bestimmte Kanäle und da hat man eine doppelte Gefahr. Einerseits weiß man nicht, was bekomme ich verkauft und ich weiß nicht, wer mir da begegnet. Das könnte eine Gefahr sein. Es ist erschreckend leicht, an diese Sachen heranzukommen."

Mehr zum Thema

Was sind Warnzeichen für Eltern, dass ihr Kind diese Medikamente regelmäßig nimmt? Ein Zeichen könne sein, wenn sich die Persönlichkeit ungewöhnlich stark verändere, sagt der Suchtberater und nennt einige Beispiele: "Auf einmal sind andere Freunde im Spiel, die Schulleistungen krachen ab, es gibt ein komisches Rückzugsverhalten, es wird sich nicht mehr an Absprachen gehalten."

Eltern sollten konkret danach fragen, was ihre Kinder nehmen, über Alkohol und Cannabis hinaus. Selbst einen Entzug zu machen, davon rät Coffin ab. Wenn es zu Krampfanfällen und zum Delirium kommt, kann das lebensgefährlich sein. Besser sei es, in eine Suchtberatung zu gehen - der Besuch ist meist kostenlos.

"Wieder was gelernt"-Podcast

Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?

"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige. Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein wenig schlauer.

Alle Folgen finden Sie in der ntv-App, bei RTL+, Amazon Music, Apple Podcasts und Spotify. Für alle anderen Podcast-Apps können Sie den RSS-Feed verwenden.

Sie haben eine Frage? Schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an podcasts@ntv.de

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen