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Zum Tode Alfred Grossers Ein deutsch-französischer Brückenbauer ist gegangen

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Alfred Grosser und seine Frau Anne-Marie.

Alfred Grosser und seine Frau Anne-Marie.

(Foto: picture alliance/dpa)

Über Jahrzehnte hat es sich Alfred Grosser zur Aufgabe gemacht, Deutschland und Frankreich einander näherzubringen. Er tut dies geistreich und humorvoll. Mit ihm verlieren beide Länder einen unabhängigen Intellektuellen mit internationaler Ausstrahlung.

Alfred Grosser, ein Symbol der außergewöhnlichen, deutsch-französischen Aussöhnung nach drei Kriegen zwischen 1870 und 1945, ist tot. Er starb mit 99 Jahren. Aus drei Gründen war er eine außergewöhnliche Persönlichkeit:

  • Er hatte die deutsch-französische Versöhnung direkt nach dem Zweiten Weltkrieg noch als junger Mann trotz der schlimmen Erfahrung seiner Vertreibung durch das NS-Regime aus Deutschland als Kind mit jüdischen Eltern aktiv eingeleitet und vorangetrieben. Dazu waren nach den Kriegserfahrungen nicht nur Franzosen wie er, sondern auch Deutsche bis in die 1960er Jahre oft nicht bereit.
  • Er hat es wie kaum ein anderer verstanden, Franzosen Deutschland zu erklären und umgekehrt Deutschen Frankreich zu erklären. In zahlreichen Büchern, Interviews, Zeitungsartikeln, Reden und Gesprächen hat er das sein ganzes langes Leben lang unermüdlich, geistreich, klug und humorvoll getan.
  • Er leistete dies als unabhängiger Intellektueller ohne bedeutende Ämter nur als Inhaber einer Professur an dem angesehenen Institut d‘études politiques in Paris.

Niemand hat es wie er verstanden, einerseits die Politik und die Gesellschaften zu kritisieren. Dabei schreckte er vor geschärften Thesen nicht zurück. Gleichzeitig aber betrieb er einen engen Austausch mit der Politik und der Gesellschaft. Dreimal wurde er als Redner in den Deutschen Bundestag eingeladen. Er war ein unabhängiger Intellektueller vom Besten mit internationaler Ausstrahlung.

Welche Lücke hinterlässt dieser große deutsch-französische Versöhner und Erklärer? Sicher ist es in letzter Zeit in seinem hohen Alter etwas stiller um ihn geworden. Anders als in den 1950er und 1960er Jahren hängt die deutsch-französische Versöhnung auch nicht mehr so sehr von einzelnen Politikern und einzelnen intellektuellen Persönlichkeiten ab.

Mit den politischen Kulturen wie kaum ein anderer vertraut

Eine ganze Reihe von Institutionen wie etwa das deutsch-französische Institut in Ludwigsburg, das Centre Marc Bloch in Berlin, die deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, mehrere universitäre Frankreich-Zentren erklären den Deutschen das heutige Frankreich. Ähnliche Institutionen gibt es in Frankreich. Eine ganze Reihe von sehr fähigen Journalisten, darunter auch mehr Frauen als früher, vermitteln den Deutschen heute besser, was in Frankreich passiert und umgekehrt wird den Franzosen Deutschland von sehr guten französischen Journalisten erklärt.

Viele Städte-, Dorf-, Universitäts- und Organisationspartnerschaften, viele Austauschprogramme verbinden die beiden Länder so eng wie keine anderen zwei Länder in Europa. Eine erneute gesellschaftliche oder kulturelle Entfremdung und Verfeindung zwischen beiden Ländern wird dadurch verhindert.

Aber Alfred Grosser wird trotzdem fehlen. Er war mit den politischen Kulturen Frankreichs und Deutschlands wie kaum ein anderer gleichermaßen vertraut und wurde in beiden Ländern mit ähnlicher Aufmerksamkeit angehört. Zur Zusammenarbeit und europäischen Verantwortung der beiden Länder wird man deshalb diesen großen Intellektuellen mit seinen Analysen, seinen pointierten Thesen, seinen klugen Ratschlägen in beiden Ländern vermissen.

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In der gegenwärtigen Situation wird die Europäische Union mehr denn je herausgefordert und braucht mehr denn je die deutsch-französische Zusammenarbeit ohne Ausschluss anderer Mitgliedsländer. Gleichzeitig sind sich die beiden Regierungen einander eher entfremdet. Alfred Grosser hätte wohl gewusst, wie man einen deutschen Kanzler und einen französischen Präsidenten in ihren unterschiedlichen Ämtern und die verschiedenen politischen Kulturen in Frankreich und Deutschland anspricht und ihnen unverblümt sagt, wie die Politik es besser machen sollte.

Prof. Dr. Hartmut Kaelble hatte bis 2008 einen Lehrstuhl für Sozialgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er zählt zu den renommiertesten deutschen Sozialhistorikern.

Quelle: ntv.de

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