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"Großer politischer Integrator" Die sechs Vermächtnisse von Jacques Delors

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Delors hat in seiner Amtszeit als EU-Kommissionspräsident die EU maßgeblich geformt.

Delors hat in seiner Amtszeit als EU-Kommissionspräsident die EU maßgeblich geformt.

Ein Jahrzehnt lang führt Jacques Delors die Europäische Union. Sein Wirken trägt maßgeblich zur Festigung des Staatenbundes bei. Ihm gelang es, den Sozialisten Mitterand, den Christdemokraten Kohl und die Neoliberale Thatcher einzubinden. Dies verändert die EU grundlegend und erfand sie neu.

Mit Jacques Delors ist der bedeutendste Präsident der Europäischen Kommission gestorben. Er hatte dieses Amt zwischen 1985 und 1995 inne. Angetreten hatte er es in der Zeit wachsender Arbeitslosigkeit, des verschärften Kalten Kriegs, der Globalisierung und der Euro-Sklerose. In dieser Zeit hat Delors der europäischen Integration eine neue Zuversicht vermittelt. Seinen Glauben an die Kraft der staatlichen Institutionen und der großen gesellschaftlichen Organisationen übertrug er auf die Europäische Gemeinschaft. Er war ein großer politischer Integrator und gewann für sein europäisches Projekt den Sozialisten Francois Mitterand ebenso wie den Christdemokraten Helmut Kohl und die Neoliberale Margaret Thatcher.

Delors hat vor allem sechs Leistungen erbracht:

  • Er hat den Binnenmarkt in seiner heutigen Funktionsweise geschaffen, die freie Mobilität der Waren, der Arbeitenden, des Kapitals und des Wissens, und dafür auch das Schengen-Abkommen vorbereitet. Gleichzeitig hat er dem Binnenmarkt mit der Schaffung der gemeinsamen europäischen Währung eine entscheidende, neue, historische Prägung gegeben.
  • Er hat der Europäischen Union in einer Zeit des bedrohlichen Anwachsens der Arbeitslosigkeit eine neue Arbeitsmarktpolitik verschafft. Einerseits mit einer Politik der Resilienz der Arbeitenden durch bessere Bildung und durch besseren Zugang zum Arbeitsmarkt. Andererseits mit einer europäischen Politik der Mindeststandards des Arbeitsschutzes und der sozialen Grundrechte. Seine Politik trug dazu bei, die Arbeitslosigkeit in der EU allmählich zu senken.
  • Er hat als ehemaliger Gewerkschaftler die Balance der gesellschaftlichen Kräfte in der europäischen Politik neu justiert und den Gewerkschaften und Arbeitgebern eine stärkere Beteiligung an den europäischen Entscheidungen verschafft.
  • Er hat zur Deutschen Einheit entscheidend beigetragen, indem er sofort und ohne Bedingungen die stille Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft um das Territorium der DDR akzeptierte.
  • Seine oft vergessene Leistung besteht in seinem Verhältnis zur Wissenschaft und zu den Intellektuellen. Er hat nicht nur das Erasmus-Programm für Studenten unterstützt. Er hat sich auch regelmäßig mit Intellektuellen getroffen - nicht um sich selbst zu produzieren und eine neue Bühne zu verschaffen, sondern um zuzuhören und neue Meinungen zu hören. Er war einer der seltenen Zuhörer unter den Politikern. Es ist auch ihm zu verdanken, dass die europäische Forschungspolitik seit den 1990er Jahren einen ungeahnten Aufschwung erlebte.
  • Und schließlich wird oft übersehen, dass er der EU im Westen und in der Welt einen neuen Respekt verschaffte und Europa zu einem weltweiten Modell regionaler Integration werden ließ.

Mit diesen Weichenstellungen wurde die heutige Europäische Union während seiner Präsidentschaft ab den späten 1980er Jahren grundlegend verändert und gleichsam neu erfunden.

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Diese Weichenstellungen aber bekamen Risse mit dem Scheitern des europäischen Verfassungsvertrags von 2005 sowie mit der Finanzkrise ab 2009 und mit dem Brexit 2016. Trotzdem haben sie bis heute gehalten. In den vergangenen Jahren ist uns jedoch stärker bewusst geworden, dass ein rechtspopulistisches Europa diese segensreichen Weichenstellungen wieder beseitigen und dadurch Europa wie im Kalten Krieg zum Spielball außereuropäischer Mächte werden lassen würde.

Prof. Dr. Hartmut Kaelble hatte bis 2008 einen Lehrstuhl für Sozialgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er zählt zu den renommiertesten deutschen Sozialhistorikern.

Quelle: ntv.de

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