Erdoğan von außen unangreifbar In der Türkei geht es den Sozialdemokraten an den Kragen
11.07.2025, 17:43 Uhr Artikel anhören
Nach innen unterdrückt Präsident Erdoğan jeden Protest, von außen muss er nicht mit Kritik rechnen.
(Foto: IMAGO/Anadolu Agency)
Die Verhaftungswelle in der Türkei hält an - vor allem die oppositionelle CHP steht unter Druck. Hat dies einst für Schlagzeilen und internationalen Aufschrei gesorgt, werden die Repressalien heute kaum noch wahrgenommen. Das hat vor allem mit Erdoğans Außenpolitik zu tun.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan räumt seine Opponenten weiterhin unerbittlich aus dem Weg - und was früher für einen internationalen Aufschrei gesorgt hätte, wird momentan in Brüssel oder Washington nicht einmal mit mahnenden Worten erwähnt. Seit hundert Tagen steckt Erdoğans stärkster Widersacher, Ekrem Imamoğlu, im Gefängnis. Politiker vieler Länder bekundeten ihre Solidarität. Auch in Deutschland forderte etwa die SPD die Freilassung ihres Genossen - Imamoğlus CHP ist Schwesterpartei der SPD.
In der Türkei gab es riesige Proteste für den abgesetzten Bürgermeister von Istanbul. Inzwischen gehen nicht mehr Hunderttausende gegen die Regierung auf die Straßen. Meist in Istanbul skandieren wenige Hunderte, meist Studierende, "Hak. Hukuk. Adalet" - Recht, Gesetz, Gerechtigkeit. Denn die Serie an Festnahmen demokratisch gewählter Amtsträger reißt nicht ab. Am Montag wurde der Bürgermeister der südtürkischen Stadt Antalya, Muhittin Böcek, des Amtes enthoben. Die Polizei hatte ihn wenige Tage zuvor aufgrund von Vorwürfen angeblicher Korruption verhaftet.
Damit wurde bereits der dreizehnte Bürgermeister innerhalb weniger Monate entmachtet. Mittlerweile sind es sogar fünfzehn. Alle gehören der sozialdemokratischen CHP an, der größten Oppositionspartei des Landes, die 1923 vom Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk ins Leben gerufen wurde. Zu den Inhaftierten zählen auch die Bürgermeister von Adana und Izmir. In Izmir wurden zudem am 1. Juli bei einer Razzia im Rathaus rund 140 Mitarbeiter der Verwaltung verhaftet, meist wegen angeblicher Korruption.
Geopolitisch sitzt der Präsident fest im Sattel
Die aktuellen Inhaftierungen und die systematische Demontage des institutionellen Gefüges finden in der ausländischen Politik kaum mehr ein Echo. Die weltpolitische Lage spielt Erdoğan in die Hände. Von Bundeskanzler Friedrich Merz kein Wort zu den jüngsten Verhaftungen, auch Ursula von der Leyen hüllt sich in Schweigen.
Dies hat vor allem mit Erdoğans geschickter außenpolitischer Strategie zu tun. Der Langzeitherrscher sitzt in geopolitischer Hinsicht fest im Sattel. Donald Trump nennt ihn einen "großartigen Freund". Für die Nato ist er ein unverzichtbarer Verbündeter. Wladimir Putin und Erdoğan pflegen ebenfalls einvernehmliche Beziehungen. Kooperative Gespräche gibt es auch mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping - die Türkei will der von China angeführten Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit beitreten.
Zudem ist das Land eine wichtige Militärmacht im Syrien der Nach-Assad-Ära. Es prägt die Neuordnung im Nahen Osten mit. Im Konflikt zwischen Israel und Iran sowie im Krieg um die Ukraine tritt es als Vermittler auf - und die Europäer brauchen die Türkei in ihrer versuchten Gestaltung einer neuen Sicherheitsarchitektur gegen Putin und mit einem launischen Trump.
Erdoğan hat die Außenpolitik der Türkei diversifiziert
Während innenpolitisch die Wirtschaftskrise in der Türkei seit Jahren nicht einzudämmen ist, hat Erdoğan auf dem internationalen Parkett vieles richtig gemacht. Um eine "Supermacht", wie er es ausdrückt, zu werden, will sich der türkische Präsident außenpolitisch nicht nur auf seine westlichen Partner verlassen, sondern Teil weiterer multilateraler Plattformen sein. So hat er die Außenpolitik seines Landes diversifiziert und wagt ständige Gratwanderungen zwischen der Nato und deren Gegnern.
So reichte Ankara während des BRICS-Gipfels Ende Oktober 2024 in Russland einen formellen Antrag auf Beitritt zu der Gruppe ein, die ein Gegengewicht zur westlich geprägten Weltordnung bilden will. Doch Indien opponierte gegen einen Beitritt - wegen der türkischen Nähe zum Erzfeind Pakistan. Stattdessen wurde Ankara der Status einer "Partnermitgliedschaft" angeboten. Trotz Indiens Einspruch ist ein richtiger Beitritt noch lange nicht vom Tisch - und Ankara will nicht nur Partner sein, sondern ein Vollmitglied.
Aus türkischer Sicht ist der Westen nur neidisch
Die Symbolkraft von Ankaras Aufnahmeantrag ist nicht zu unterschätzen. Der Vorstoß unterstreicht wieder einmal Erdoğans globale Ambitionen. Unter seiner Führung hat sich in der Türkei ein postwestliches Narrativ verbreitet: Die Meinung, der Westen sei im Niedergang und neide der Türkei ihre Erfolge, hat sich mittlerweile im gesamten politischen Spektrum des Landes oftmals festgesetzt.
Die Regierung Erdoğan wirft dem Westen vor, das Wachstum des heimischen Verteidigungssektors und der Industrie im Allgemeinen und den Aufstieg der Türkei zu einer Supermacht zu bremsen. Der türkische Präsident sieht sich in einer Reihe mit den erfolgshungrigen Machthabern Putin, Xi und dem indischen Staatschef Narendra Modi. Seine jüngsten Erfolge in Syrien und selbstbewussten Vermittlungsversuche bei internationalen Konflikten dürften ihn dabei bestärken.
"Ankara strebt durch sein Vermittlungsengagement vor allem an, seine regionale Rolle als Ordnungsmacht zu festigen, stabile politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen in der Nachbarschaft zu schaffen und dadurch seine eigenen sicherheits- sowie wirtschaftspolitischen Interessen zu wahren", sagt Yaşar Aydın, Sozialwissenschaftler von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik. "Insbesondere verfolgt die Türkei das Ziel, Grenzverschiebungen zu verhindern, ihre territoriale Integrität zu schützen und als wichtige Transit- und Handelspartnerin zwischen Europa und Asien zu agieren", so Aydın.
Europa hat Erdoğan wenig entgegenzusetzen
Das BRICS-Bündnis ist nur ein weiteres Instrument, um sich diesem Ziel zu nähern. Dabei sieht Erdoğan die Allianz nicht als Alternative zur Nato oder EU, sondern als Ergänzung für seine ehrgeizigen Pläne. Im September betonte er noch, Debatten über eine "Achsenverschiebung" seien unbegründet. Die Türkei müsse sich jedoch an neue "Machtzentren" anpassen, die sich in den Bereichen Wirtschaft, Produktion und Technologie bilden würden, und sich gleichzeitig Chancen in alle Richtungen verschaffen. Zuvor hatte er versichert: "Wir sind ein unerschütterlicher Nato-Verbündeter. Wir glauben jedoch nicht, dass dies unsere Fähigkeit einschränkt, positive Beziehungen zu Nationen wie China und Russland aufzubauen."
Neben der BRICS-Mitgliedschaft bemüht sich Ankara um einen Beitritt zur Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ). Deren Mitglieder sind China, Russland, Indien, Pakistan, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Usbekistan und Iran. Die Türkei wäre bei einer Aufnahme in das Autokratenbündnis das einzige Nato-Mitglied und der einzige EU-Beitrittskandidat, der das Land offiziell weiterhin ist. Auch die seit Jahren anhaltende Wirtschaftskrise treibt den türkischen Staatschef an. Sein Land sucht nach ausländischen Investitionen. Ankara erkennt in SOZ und BRICS Plattformen, um mit Russland und China besser in Kontakt zu kommen und die Wirtschaftsbeziehungen zu den Schwellenländern auszubauen. Dem hat Europa wenig entgegenzusetzen - außer Hilflosigkeit und Angst gegenüber einem mächtigen Strategen.
Die Position ermöglicht Erdoğan, im Inland ungehemmt aufzutreten. Auf seinem offiziellen Facebook-Account finden sich dieser Tage zahlreiche Posts, in denen er die CHP massiv angreift. Die Sozialdemokraten werden immer wieder mit "kriminellen Vereinigungen" in Verbindung gebracht oder als "Diebe" bezeichnet. Währenddessen wurde in Istanbul ein 16-Jähriger wegen "Beleidigung des Präsidenten" festgenommen, weil er regierungskritische Inhalte in sozialen Medien postete. Auch in Istanbul wurden am Donnerstag Razzien bei der CHP-nahen Stadtverwaltung im Stadtteil Şile durchgeführt. Der Bezirksbürgermeister, der CHP-Politiker Özgür Kabadayı, wurde ebenfalls festgenommen.
Quelle: ntv.de