Wirtschaft soll wieder wachsen Reiche hat gute Nachrichten, die (noch) keine sind


Die Bundesregierung hebt ihre Wachstumsprognose leicht an. Im kommenden und darauffolgenden Jahr legt die deutsche Wirtschaft nach Jahren der Stagnation demnach wieder leicht zu. Doch Bundeswirtschaftsministerin Reiche will die Zahlen nicht falsch verstanden wissen. Der Reformdruck ist immens.
Nach zwei Jahren der Rezession rechnet die Bundesregierung im laufenden Jahr mit ganz leichtem Wirtschaftswachstum. Mit einem Plus von 0,2 Prozent beim Bruttoinlandsprodukt gelingt der Bundesrepublik den neuen Prognosen zufolge eine tiefschwarze Null, knapp mehr als Stagnation. Ein echtes Plus soll es laut Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche im kommenden Jahr mit 1,3 Prozent Wachstum geben sowie mit 1,4 Prozent im Jahr 2027. "Ein großer Teil des Wachstumsimpulses dürfte aus dem Sondervermögen kommen sowie aus den Verteidigungsinvestitionen", sagte die CDU-Politikerin in Berlin. Heißt: Einerseits sorgen die dreistelligen Milliardenkredite für den erhofften Belebungsimpuls, strukturell geht es der deutschen Wirtschaft aber unverändert schlecht.
Wie Reiches Chefökonom Benjamin Weigert auf Nachfrage erläuterte, gehen im kommenden Jahr rund 0,7 Prozentpunkte des Wachstums auf die staatlich angeschobene Binnennachfrage zurück. 2027 sind es dann noch 0,3 Prozentpunkte staatlich induziertes Wachstum, wobei die langfristigere Prognose mehr Unsicherheiten enthält. Aus eigener Kraft ist die deutsche Wirtschaft also weiter schwach auf der Brust - sei es wegen gewachsener Handelshemnisse wie den US-Zöllen oder den im Vergleich zu USA und China hohen Energiepreisen für das produzierende Gewerbe. Das Wachstum ist vor allem durch die staatlich befeuerte Binnennachfrage getragen sowie durch den privaten Konsum. Die Reallöhne sind im laufenden Jahr weitergewachsen bei einer seit einem Jahr stabilen Inflation von knapp über 2 Prozent. "Die Menschen haben tatsächlich also wieder etwas mehr Geld im Portemonnaie", so Reiche.
Nicht weit weg von Habeck
Die Ministerin will die leicht über der Frühjahrsprognose liegenden Zahlen von 0,0 Prozent in diesem Jahr und 1,0 Prozent im kommenden nicht als Entwarnung missverstanden wissen. "Es ist kein Potenzialwachstum", bremst Reiche. "Aber es ist Wachstum, was durch einen staatlichen Impuls zum Tragen kommen kann, wenn er flankiert wird durch Strukturmaßnahmen." Das Potenzialwachstum ist ein schon von Reiche-Vorgänger Robert Habeck gerne angeführte Größe, die aufzeigt, zu welcher Entwicklung eine Wirtschaft bei normaler Nachfrage in der Lage ist. "Das Wachstumspotenzial in Deutschland ist von rund 1,5 Prozent in der letzten Dekade auf aktuell nur noch ein halbes Prozent zurückgegangen", formulierte nun auch Reiche im Habeck-Duktus.
Der von der Union als schlechtester Wirtschaftsminister aller Zeiten geschmähte Grüne hatte stets Deutschlands Bürokratiekosten, die Folgen des demografischen Wandels, die hohen Lohnkosten, hohe Energiepreise und die wachsenden Hürden im Welthandel als strukturelles Hemmnis für Wirtschaftswachstum angeführt. Auch da klang Reiche nicht anders, und sie kann immerhin mit einem Schuldenpaket operieren, das die Union der Ampel noch verwehrt hatte, und das nun tatsächlich Impulse für eine Belebung setzt. Nachhaltig wird dieses Mehr aber nur durch Reformen. Und da hat Reiche Vorstellungen, die weit über das hinausgehen, worauf sich die Koalition aus CDU, CSU und SPD bislang verständigen konnte.
Reiche macht Druck bei Sozialabgaben
Die CDU-Politikerin macht Druck, die Lohnkosten insbesondere mit Blick auf die Sozialabgaben in den Griff zu bekommen. "Die Projektion zeigt, dass Deutschland aktuell mit Sozialversicherungsbeiträgen von 42,3 Prozent bis 2035 auf 48,9 Prozent steigen könnte", sagte Reiche. "Eine längere Lebensarbeitszeit ist mittel- und langfristig unumgänglich." Im Tandem mit CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann gibt Reiche inzwischen eine Art Bad Cop in der Koalition, während etwa Bundeskanzler Friedrich Merz das Verbindende mit der SPD betont. Reiche weiß um die Sprengkraft ihrer Ansichten und macht im Gespräch mit ntv klar, dass eine Anhebung des Rentenalters momentan "nicht zur Debatte" stehe. Das heißt aber nicht, dass sie das nicht richtig und wichtig fände.
Reiche mahnte auch mit Blick auf den Bundeshaushalt schnelle und wirksame Reformen an, unter anderem mit Blick auf das Bürgergeld: "Standen soziale Leistungen 1992 noch für 35 Prozent des Haushaltes, sind es heute 48 Prozent." Ein erstes Gesetzespaket zum Bürgergeld könnte Arbeitsministerin Bärbel Bas noch im Oktober vorlegen. Das Thema dürfte auch den Koalitionsausschuss am Mittwochabend beschäftigen.
Fällt das Verbrenner-Aus 2035?
Ebenfalls Thema dürfte dort das EU-weit geltende Neuzulassungsverbot für Diesel- und Benzinautos ab 2035 sein. Die SPD-Bundestagsfraktion und der sozialdemokratische Bundesumweltminister Carsten Schneider halten am sogenannten Verbrenner-Aus (das nicht für alternative Kraftstoffe gilt) fest. Reiche und die Union rütteln daran nach Kräften, die Wirtschaftsministerin will zumindest Plug-In-Hybride und Hybrid-Pkw noch länger neu zulassen. "Das ist für mich einer der Hauptpunkte, den wir beachten müssen, dass, wenn ich eine Industrie transformieren möchte, hier die Gelegenheit geben muss, das auch wirtschaftlich und ökonomisch zu tun", sagte Reiche.
Reiche bekräftigte ihr Ziel, noch in diesem Jahr Novellen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes sowie des Gebäude-Energie-Gesetzes vorzulegen, um die Kosten der Energiewende und somit auch die Strompreise zu senken. Das ist ambitioniert, schon allein, weil es innerhalb der Koalition teils sehr unterschiedliche Ansichten darüber gibt, wer denn nun stärker zur Finanzierung der neuen Stromnetze herangezogen werden soll und welchen Beitrag neue Gaskraftwerke leisten könnten.
Ebenfalls noch in diesem Jahr will die Ministerin den Industriestrompreis festzurren. Der beihilferechtliche Rahmen mit der EU-Kommission sei weitgehend geklärt, versicherte Reiche. Nun gehe es darum, die EU-Auflagen bürokratiearm zu gestalten. Brüssel verlangt, dass Unternehmen die Hälfte der staatlichen Strompreiszuschüsse in die eigene Energieeffizienz investieren. Reiche bekräftigte das Ziel der Bundesregierung, die Bürokratiekosten deutscher Unternehmen in Höhe von 67 Milliarden Euro zu halbieren. Auch das ein dickes Brett, das schnell gebohrt sein will.
Ebenfalls am heutigen Mittwoch legte das Statistische Bundesamt Zahlen vor, wonach die deutschen Unternehmen ihre Produktion im August so stark gedrosselt haben wie seit Beginn der russischen Vollinvasion der Ukraine nicht mehr. Allein die Industrie stellte 5,6 Prozent weniger her als im Vormonat. Einzig die Baubranche zog ihre Produktion leicht an, um 0,6 Prozent. Ökonomen deuteten die Daten unterschiedlich. Klar ist aber: Die optimistischeren Erwartungen für das kommende Jahr werden durch diese Entwicklung zumindest nicht unterfüttert.
Quelle: ntv.de