Politik

Reisners Blick auf die Front Angriff auf Krim-Brücke ist "Versuch, den Krieg nach Russland zu tragen"

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Diese Foto wurde nach dem Angriff auf die Brücke aus einem Zug aufgenommen.

Diese Foto wurde nach dem Angriff auf die Brücke aus einem Zug aufgenommen.

(Foto: via REUTERS)

Der Angriff auf die Kertsch-Brücke trifft erneut eine wichtige Versorgungsader für die Krim aber auch für die russischen Truppen an der Front. Oberst Markus Reisner erklärt ntv.de, welche Waffen hier im Spiel sein könnten, und was die Attacke für Russland bedeutet. Aus Sicht Reisners will die Ukraine den Krieg nach Russland tragen und dadurch Druck von der Front nehmen. Doch damit das gelingt, müssen die Schäden nachhaltig sein.

ntv.de: Sehen Sie einen größeren Zusammenhang, in dem dieser Angriff auf die Brücke zur Krim eine Funktion erfüllt?

Reisner: Auf die Krim gibt es zwei entscheidende Versorgungslinien: einerseits die Landlinie, vor allem die Eisenbahntrasse, die nördlich des Asowschen Meers auf die Halbinsel führt. Das zweite ist die Brücke von Kertsch, über die eine Eisenbahnlinie und eine Autostraße auf die Krim führen.

Wie wichtig sind die beiden Linien, um die Krim zu versorgen?

Wenn beide Linien zeitgleich unterbrochen werden könnten, würde das die russische Seite vor enorme logistische Herausforderungen stellen und - das ist sicherlich das Kalkül der Ukraine - Russland möglicherweise zu Verhandlungen zwingen. Die Bilder, die heute Morgen hereingekommen sind, zeigen an der Brücke beträchtliche Zerstörung. Sie ist laut diesem Material noch nicht zusammengebrochen, weist aber schwere Schäden zwischen einzelnen Säulen auf. Für den Autoverkehr ist sie weiterhin gesperrt.

Jeden Montag beantwortet Oberst Markus Reisner bei ntv.de Fragen zur aktuellen Lage in der Ukraine. Er ist Militärhistoriker, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wien sowie Kommandant des österreichischen Gardebataillons. Seit Beginn der russischen Invasion analysiert er den Krieg in der Ukraine.

Jeden Montag beantwortet Oberst Markus Reisner bei ntv.de Fragen zur aktuellen Lage in der Ukraine. Er ist Militärhistoriker, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wien sowie Kommandant des österreichischen Gardebataillons. Seit Beginn der russischen Invasion analysiert er den Krieg in der Ukraine.

(Foto: privat)

Russland zu Verhandlungen zwingen - das klingt nach großer Relevanz der Bahnlinie auch für die Kreml-Truppen.

Aufgrund der riesigen Distanzen in der Ukraine basiert vieles auf dem Transport mit der Eisenbahn, diese Verbindungen sind also entscheidend. Der Vorstoß der ukrainischen Landtruppen in Richtung Küste bis ans Asowsche Meer zielt auf jeden Fall auch darauf ab, die wichtige Eisenbahnverbindung dort zu unterbrechen. Nach russischer Darstellung laufen die Eisenbahnverbindungen bis jetzt ohne Unterbrechungen.

Können Sie die Relevanz der Verbindungslinie zur Krim nochmal konkreter fassen? Logischerweise ist sie wichtig für die Bevölkerung und das Militär auf der Halbinsel. In welcher Weise aber für die Truppen an der Front auf dem ukrainischen Festland?

Aus der Krim heraus werden auch operative Reserven in Richtung der Räume gebracht, in denen gekämpft wird, zum Beispiel im Zentralraum der Front bei Saporischschja. Es geht auch um die Versorgung der Schwarzmeerflotte, die in diesem Krieg eine ganz essentielle Rolle spielt. Gerade die Angriffe mit Marschflugkörpern auf die kritische Infrastruktur der Ukraine werden häufig von diesen Schiffen aus durchgeführt. Die Krim ist aber auch ein wichtiger Militärstützpunkt der Landstreitkräfte. Dort werden abgekämpfte Truppen aufgefrischt und wieder versorgt, um dann neuerlich nach vorn an die Front geschickt zu werden.

Für wie lange müsste die Linie unterbrochen bleiben, damit sich ein relevanter Effekt einstellen kann?

Entscheidend für den Effekt ist die Kombination aus verschiedenen Maßnahmen. Einerseits der Druck auf die russischen Truppen, der durch die ukrainische Offensive aufrechterhalten wird. Dazu kommt der Einsatz von Waffensystemen mit hoher Reichweite. Nördlich der Krim hat neulich eine andere Brücke starke Schäden erlitten - dort wurden Marschflugkörper des Typs Storm Shadow eingesetzt.

Das sind Raketen, die über einen eigenen Antrieb verfügen und darum ihr Ziel nicht in hohem Bogen anfliegen müssen, sondern sehr schnell und über mehrere hundert Kilometer konstant im Tiefflug den Gegner erreichen. Könnten diese von London gelieferten Raketen auch heute Morgen im Einsatz gewesen sein?

Noch lässt sich zu dem eingesetzten Waffensystem nichts Verlässliches sagen, dazu muss man abwarten, welche Bilder von dort noch hereinkommen, und sich diese im Detail anschauen. Interessant ist hier auf jeden Fall die Lieferung der sogenannten SCALP-Marschflugkörper aus Frankreich.

Die hat Präsident Emmanuel Macron erst vergangene Woche zum NATO-Gipfel in Vilnius zugesagt.

In den vergangenen Monaten war es mehrfach so, dass spezielle Systeme, die Unterstützerstaaten für eine Lieferung an die Ukraine angekündigt haben, in Wirklichkeit schon dort waren und unmittelbar nach der Ankündigung zum Einsatz kamen. Bei Storm Shadow lief das ebenso, und noch im vergangenen Jahr wurden in Polen bereits Flugzeuge umgerüstet, um sie in die Lage zu versetzen, die Storm-Shadow-Marschflugkörper zu tragen. Theoretisch könnte der Angriff heute aber auch mit einem von der Ukraine selbst entwickelten Waffensystem erfolgt sein. Ich denke zum Beispiel an unbemannte Überwasserdrohnen - anlog zu jenen, welche bei den Angriffen auf Sewastopol verwendet wurden. Interessant ist in diesem Zusammenhang noch etwas anderes.

Nur zu.

Es handelt sich um die Aussage des ukrainischen Generalstabschefs Walerij Saluschnyj vor kurzem in der amerikanischen Presse: Dort hat er angekündigt, die Ukraine würde auch Ziele in Russland angreifen, weil es legitim sei und ihr zustehe. Der heutige Angriff auf die Verbindung zur besetzten Krim lässt sich als erneuten Versuch einordnen, den Krieg nach Russland zu tragen, um den unmittelbaren Druck auf die Front abzumildern. Wie lange die aktuelle Unterbrechung dauern wird, lässt sich zur Stunde noch nicht sagen. Das hängt davon ab, inwieweit auch die Statik der Brücke beschädigt ist.

Wie war es beim letzten Angriff auf die Brücke von Kertsch?

Der letzte Anschlag war sehr nachhaltig, besonders mit Blick auf die Autospur. Damals hat es Monate gedauert, bis die Russen in der Lage waren, die Brücke wieder instand zu setzen. Und selbst nach der Fertigstellung gab es Bilder, die Risse im Beton zeigten. Es kamen Zweifel daran auf, dass die Brücke wirklich wieder befahrbar ist.

Was sagt der erfolgreiche Angriff auf die Brücke über die russische Fliegerabwehr aus?

In den riesigen Ausdehnungen der Front besteht die Herausforderung für die russische Seite sicher darin, überall gleichzeitig die notwendige Fliegerabwehr zur Verfügung zu haben. Derzeit entdeckt die Ukraine offensichtlich immer wieder Stellen mit Defiziten beim Gegner. Sicher auch mit Unterstützung durch die Aufklärung der USA und der NATO. Dann erfolgt ein Angriff, der meistens erfolgreich ist. Russland versucht anschließend nachzuziehen und wieder Flugabwehr zu stationieren. Wir haben von hier aus oft nicht im Kopf, wie riesig die Ausdehnungen sind. Wir schauen auf die Karte und halten die Front für überschaubar. In Wirklichkeit sind das mehr als tausend Kilometer, die zu bewachen sind.

Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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