Heftige Kritik an "Kehrtwende" Spahn rechtfertigt Astrazeneca-Stopp
15.03.2021, 17:18 Uhr
Der deutschen Impfkampagne droht ein Rückschlag. Und die dritte Welle kommt. Jens Spahn in Berlin.
(Foto: picture alliance/dpa)
Die Kehrtwende kommt plötzlich: Nachdem die Bundesregierung Berichte über Blutgerinnsel nach der Impfung mit Astrazeneca erst zurückhaltend bewertet, gilt ab sofort ein Impfstopp. Gesundheitsminister Spahn erklärt, das sei eine fachliche und keine politische Entscheidung. Kritiker sehen das anders.
Nach Hinweisen auf mögliche Nebenwirkungen sind die Corona-Impfungen mit dem Impfstoff Astrazeneca nun auch in Deutschland vorsorglich ausgesetzt. Die Bundesregierung folgt damit einer aktuellen Empfehlung des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI), wie Bundesgesundheitsminister Jens Spahn am Nachmittag mitteilte. Nach neuen Meldungen von Thrombosen der Hirnvenen im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung in Deutschland und Europa halte das Institut weitere Untersuchungen für notwendig. "Uns allen ist die Tragweite dieser Entscheidung sehr bewusst", sagte der CDU-Politiker. Dies sei eine fachliche und keine politische Entscheidung.
Spahn sprach von sieben berichteten Fällen bei bislang 1,6 Millionen Erstimpfungen mit Astrazeneca in Deutschland. Die Europäische Arzneimittelbehörde EMA werde entscheiden, ob und wie sich die neuen Erkenntnisse auf die Zulassung des Impfstoffes auswirken, sagte der Minister weiter. Er hofft auf eine Entscheidung noch in dieser Woche. Der vorläufige Stopp betreffe sowohl die Erst- als auch Zweitimpfungen. Es handele sich um eine reine Vorsichtsmaßnahme, betonte Spahn. Nach der Ankündigung des Bundesgesundheitsministeriums teilten auch die Bundesländer mit, dass die Impfungen ausgesetzt werden.
Laut Robert-Koch-Institut wurden in Deutschland bis einschließlich Sonntag 1.647.510 Dosen Astrazeneca als Erstimpfung verabreicht. Die vorgeschriebene Zweitimpfung hatten erst 217 Menschen erhalten. Bis Sonntag wurden nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums insgesamt 3.062.400 Dosen Impfstoff von Astrazeneca in Deutschland ausgeliefert. Spahn empfahl den mit Astrazeneca Geimpften, bei deutlichen Beschwerden unverzüglich einen Arzt aufzusuchen. Dies gelte insbesondere für Menschen, die sich mehr als vier Tage nach der Impfung zunehmend unwohl fühlen, die unter starken Kopfschmerzen beziehungsweise "punktförmigen Hautblutungen" litten.
Auch Frankreich und Italien setzen aus
Die Bundesregierung hatte zunächst auf eine Aussetzung der Astrazeneca-Impfungen verzichtet, nachdem am Donnerstag Dänemark diesen Schritt gegangen war. Kopenhagen hatte auf mehrere Fälle von schweren Blutgerinnseln nach Impfungen mit dem Vakzin verwiesen. Es folgten Norwegen, Island sowie die EU-Länder Bulgarien, Irland und am Sonntagabend dann auch die Niederlande. Österreich, Estland, Lettland, Litauen und Luxemburg setzten die Nutzung von einer bestimmten Astrazeneca-Charge aus, Italien und Rumänien stoppten die Nutzung einer anderen Charge. Nach der deutschen Entscheidung folgten auch Frankreich und Italien und stoppten die weitere Verimpfung des Astrazeneca-Vakzins.
Der britisch-schwedische Hersteller betonte allerdings, die Analyse von mehr als zehn Millionen Fällen habe "keinerlei Beweis für ein erhöhtes Risiko für eine Lungenembolie oder Thrombose" ergeben. Mitentwickler Andrew Pollard, Leiter der Oxford Vaccine Group, erklärte am Montag, es gebe "sehr beruhigende Beweise", dass das Vakzin in Großbritannien - bislang sein Haupteinsatzgebiet in Europa - nicht zu einer Zunahme von Blutgerinnseln geführt habe.
Lauterbach: "Das ist ein Fehler"
Die Entscheidung der Bundesregierung zur Aussetzung der Impfungen stieß bei Politikern von SPD und Linkspartei auf Kritik. "Ich halte das für einen Fehler", sagte der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach dem ZDF. Der Impfstopp werde das Vertrauen in Astrazeneca weiter reduzieren, "dabei gibt es keine neuen Daten, die den Stopp rechtfertigen", sagte Lauterbach weiter. Im Interview mit RTL/ntv erklärte Lauterbach, dass das Risiko einer Thrombose weit unter 1 zu 100.000 liege. Das Risiko scheint nicht erhöht zu sein im Vergleich zu denjenigen, die nicht geimpft wurden und auch im Vergleich zu den Biontech-Geimpften.
Irritiert äußerte sich auch die SPD-Europapolitikerin Katarina Barley. "Die neueste Generation der Antibabypille hat als Nebenwirkung Thrombosen bei acht bis zwölf von 10.000 Frauen. Hat das bisher irgendwen gestört?", fragte sie auf Twitter. "Die Astrazeneca-Aussetzung zerstört Vertrauen in einen guten Impfstoff", schrieb auf Twitter der Grünen-Europapolitiker Erik Marquardt, "bloß weil niemand mehr Verantwortung für Entscheidungen übernehmen" wolle. "Mit dieser bürokratischen Lethargie würde man bei Seenot auch nicht vom sinkenden Schiff springen, weil man dabei nass werden könnte", kritisierte er weiter.
"Deutsche Impfstrategie fällt zusammen"
"Herr Spahn muss seine erratische Kehrtwende erklären", verlangte FDP-Fraktionsvize Michael Theurer in Berlin. Dazu gehöre auch die Frage, warum die Entscheidung unmittelbar nach den Landtagswahlen vom Sonntag bekanntgegeben werde und ob dafür neue Daten vorlägen, erklärte Theurer weiter. Der FDP-Politiker wies darauf hin, dass die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA die bislang bekannt gewordenen Fälle von Thrombosen als "statistisch völlig unauffällig" einstufe, und empfehle, den Impfstoff von Astrazeneca weiter zu nutzen.
Vor gravierenden Konsequenzen der Entscheidung warnte auf Twitter der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen. Die Aussetzung der Nutzung von Astrazeneca treffe nun mit dem "Hereinbrechen der dritten Welle" der Corona-Pandemie zusammen. Die Konsequenz müsse sein: "Die Corona-Schutzmaßnahmen müssen nun hochgefahren werden." Auch Lauterbach warnte im "Münchner Merkur": "Unsere Impfstrategie fällt in sich zusammen." Gegenüber RTL/ntv äußerte der SPD-Politiker aber die Hoffnung, dass es nach einer kurzen Überprüfung weitergehen könne. "Sonst wäre die Impfstrategie über die Hausärzte gefährdet", sagte er den Sendern.
Quelle: ntv.de, mau/AFP