Homeoffice nach der Pandemie "Wir brauchen kreative Lösungen"
26.06.2021, 19:21 Uhr
(Foto: imago images/Westend61)
Das Virus hat der digitalen Entwicklung einen Schub gegeben. Nach der Pandemie sollen nicht alle einfach ins Büro zurückkehren.
In der Corona-Pandemie arbeiteten über 19 Millionen Menschen ganz oder teilweise im Homeoffice. Das sind in Summe 45 Prozent aller Berufstätigen in Deutschland. Die digitale Transformation wurde durch ein Virus nicht blockiert, sondern um Jahre nach vorne katapultiert. Dass in jeder Krise eine Chance steckt, zeigt die Bitkom-Studie zum Thema: 74 Prozent sagen, dass Homeoffice in Deutschland allgemein noch sehr viel stärker genutzt werden sollte. 85 Prozent sagen, Homeoffice kann den Verkehr reduzieren und damit auch das Klima entlasten.
Auch ich konnte als Wirtschaftsminister Niedersachsens, eines Flächenstaats, Dienstfahrten vermeiden und lernte stattdessen die Kommunikation über Videokonferenzen kennen und schätzen. Gleichwohl kann das Unpersönliche keine Dauerlösung sein, zumal Politikerinnen und Politiker immer auf Tuchfühlung mit den Menschen sein sollten.

Bernd Althusmann ist Niedersachsens Minister für Wirtschaft, Arbeit, Verkehr und Digitalisierung.
(Foto: MW/Martin Rohrmann)
Ich höre immer wieder die Belastungen von Arbeitnehmerseite. Es besteht kein Zweifel: Der Akku vieler Beschäftigter ist leer, nicht nur durch Homeschooling, sondern durch fehlende Treffen im Freundeskreis und in den Vereinen. Menschliche Grundbedürfnisse nach sozialem Zusammenhalt, nach kulturellen Erlebnissen, nach Geselligkeit und Austausch blieben auf der Strecke.
Blicken wir jetzt auf die Veränderungen durch die Pandemie, ergeben sich Chancen und Potenziale der modernen Arbeitswelt, aber auch Risiken. Doch geht es jetzt vor allem darum, die Rahmenbedingungen zu schaffen für ein bereits vor Corona debattiertes Konzept neuen Arbeitens in einer neuen Arbeitswelt. Wie gestaltet man - ob Unternehmen oder Behörde, Homeoffice-Regelungen, Co-Working-Spaces im ländlichen Raum und mobiles Arbeiten?
Hier brauchen wir kreative Lösungen, denn eins sollte nicht passieren: einfach alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zurückzuholen ins Büro - wegen einer rechtlich unsicheren Situation. Das wäre die Rückkehr in eine alte Welt, statt Aufbruch in eine neue Epoche - ob nun in der öffentlichen Verwaltung, im mittelständischen Betrieb oder womöglich in Dienstleistungsbereichen der industriellen Produktion.
Nach einer Mc-Kinsey-Studie beklagen viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer genau diesen Umstand. Sie wünschen sich eine klare Vision, wie es in der Post-Pandemie-Welt mit dem Homeoffice weitergeht. Dieser Wunsch ist nur zu verständlich. Die Politik hat daher einen klaren Gestaltungsauftrag. Doch wie lässt sich dieser umsetzen?
Kein Weg zurück zu Vor-Corona
Wir sollten drei Szenarien bedenken. Bleibt alles beim Alten wie vor der Pandemie, macht ein Anspruch auf Homeoffice wirklich Sinn oder brauchen wir einfach mehr Flexibilität? In einigen Bereichen wird das Pendel zurückschlagen und der Zustand vor Corona wieder eintreten, gerade in der Produktion. IBM etwa galt als Vorreiter für Homeoffice weltweit, ruderte aber 2017 dann zurück. Das Projekt Homeoffice scheiterte offenbar.
Derartige Fälle lassen sich auch in Zukunft nicht ausschließen. Selbst der New-Work-Sehnsuchtsort Silicon Valley scheint in der Frage Homeoffice gespalten, wie der gänzlich unterschiedliche Umgang mit dem Thema bei Apple und Facebook zeigt. Auch das gehört zu einer ehrlichen Debatte. Ich denke aber, dass der Weg des Homeoffice konsequent weiterverfolgt werden wird. Nicht für alle und nicht ausschließlich.
Viele Unternehmen und Behörden werden einen Mittelweg einschlagen. Abläufe werden flexibler gestaltet, die so geschmähte und gerüffelte Verwaltungsdigitalisierung wird konsequent vorangetrieben. Es wird vor allem um die Größe und Beschaffenheit von Bildschirmen, die Arbeitsergonomie und die anderen üblichen Arbeitsschutzmaßnahmen bei Büroarbeitsplätzen gehen, auch um IT-Sicherheit und Datenschutz. Zu Hause hat die Neugestaltung des Arbeitszimmers eine neue Dimension, wenn das möglich ist.
Kein Rechtsanspruch, aber neue Ausrichtung
Einen Rechtsanspruch auf Homeoffice, wie es ihn seit Juli 2015 zum Beispiel in den Niederlanden gibt, ist nicht der Stein des Weisen. So flexibel mobiles Arbeiten praktiziert wird, sollten wir die Regelungen dazu gestalten. In den meisten europäischen Ländern wird Homeoffice ohnehin dezentral geregelt - durch individuelle Vereinbarungen zwischen Unternehmen und Beschäftigten oder zwischen den Sozialpartnern wie etwa in Dänemark, Frankreich oder Schweden.
Wir in Deutschland erleben einen Kulturwandel, der zu einer Debatte anstoßen sollte. Klischeehaft formuliert: Wir Deutschen lieben offenbar immer noch unser Papier, brauchen feste Dienstzeiten und unseren Weg ins Büro. Vor der Pandemie arbeiteten 12 Prozent der Beschäftigten in Deutschland mindestens einmal wöchentlich im Homeoffice, in den Niederlanden waren es mehr als 30 Prozent.
Alle Befragungen von Unternehmen und Beschäftigten signalisieren, dass die Homeoffice-Nutzung weit höher als vor der Krise bleiben wird. Hier ist einiges ins Rollen geraten. Menschen gehen nicht mehr in die Kantine, sondern lassen sich Essen und vieles weitere nach Hause liefern. Das Bestellen wird durch das Smartphone einfach gemacht. Disruptive Geschäftsmodelle richten sich nach den neuen Kundenbedürfnissen aus und haben Erfolg.
Eine notwendige Debatte für den Standort Deutschland
Näher am Menschen: Wegen einer halbstündigen, eher technischen Ansprache muss niemand ins Büro fahren, auch der Sinn von Dienstreisen wird stärker hinterfragt und auf Klimaneutralität geprüft werden. Die EU-Richtlinie zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige muss bis zum 2. August 2022 umgesetzt werden. Nach der Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten ermöglichen, dass Arbeitnehmer mit Kindern mindestens bis zum Alter von acht Jahren sowie pflegende Angehörige das Recht haben, flexible Arbeitsregelungen für Betreuungs- und Pflegezwecke zu beantragen. Dazu gehört ausdrücklich das Homeoffice.
Umso wichtiger ist es, für die anstehende Bundestagswahl die Debatte zu führen, zum Wohle des Wirtschaftsstandorts Deutschland und zur Regenerierung von Branchen, die besonders von der Pandemie betroffen sind. Gesellschaftlich achten wir sorgsam darauf, dass keine Zweiklassengesellschaft entsteht: zwischen den einen, die es dürfen und den anderen, die es, wie Ärzte, Logistiker, Landwirte oder Supermarktangestellte von Berufswegen her gar nicht können.
Quelle: ntv.de