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Volker Jacobs kommentiert Bespielloser Erfolg der EU

Ein halbes Jahrhundert nach ihrer Gründung als Wirtschaftsgemeinschaft hat die Europäische Union bei den Bürgern einen schlechten Ruf. Mit ihr verbinden sie Bürokratismus, grenzenlose Kompetenzgier, Verschwendung. Für alles gibt es Beispiel, so die eher komischen Anstrengungen, den Begriff des Traktorensitzes zu definieren, so die schon ärgerliche Agrarpolitik, die die Hälfte der EU-Mittel für einen Wirtschaftszweig verwendet, dessen Anteil am Sozialprodukt minimal ist.

Der luxemburgische Premier Jean-Claude Juncker spricht von einer "Vertrauenskrise" zwischen Regierenden und Regierten in der Union. Aber Unzufriedenheiten können nicht den Kern dieser Gemeinschaft sui generis treffen, die weder Staatenbund noch Bundesstaat eine ungeheure Anziehungskraft ausübt. Die EU muss nicht Mitglieder werben. Die Bewerber drängen sich. Gegründet wurde der gemeinsame Markt von sechs Staaten, die mit wirtschaftlichen Mitteln ein politisches Ziel verfolgten. 27 Mitglieder sind es heute, von denen 13 auch durch eine gemeinsame Währung verbunden sind. Sie ist die erfolgreichste Staatenverbindung der Geschichte.

Für die Älteren, die sich noch an Krieg und Nachkriegszeit erinnern und daran, wie sie noch Jahre später an den Grenzen ihre Pässe vorweisen mussten, war der Begriff, das Ziel Europa emotional positiv besetzt. Dies lag nicht allein daran, dass die Gemeinschaft wesentlich zum wirtschaftlichen Aufschwung beitrug. Dessen waren sich die Bürger kaum bewusst. Heute nehmen die Partner zwei Drittel der deutschen Ausfuhren auf. Die Beteiligung an dieser Gemeinschaft bedeutete auch, dass die Bundesrepublik endgültig in den Kreis der geachteten Staaten aufgenommen war. Viele sprachen von Vereinigten Staaten von Europa.

Das war arg euphorisch. Aber der tragende Gedanke, nämlich die Aufgabe nationaler Souveränitätsrechte zugunsten der Gemeinschaft, trug neben NATO und amerikanischer Unterstützung bei zu einer historisch beispiellosen Epoche von Frieden und Wohlstand in Europa. Für die Bürger ist dies heute selbstverständlich, und Selbstverständlichkeiten wecken keine Emotionen.

Wenn sich die Repräsentanten der Mitgliedstaaten jetzt in Berlin versammeln, denken etliche vor allem daran, soviel Nationalstaat zu retten wie möglich. Die Gründerväter wollten vor allem soviel Europa schaffen wie möglich. Diesen Gründergeist wird auch die "Berliner Erklärung" nicht wieder wachrufen, mit der die Bundeskanzlerin ein europäisches Glaubensbekenntnis formuliert, ein Glaubensbekenntnis mit pragmatischen Zügen. Sorgsam vermeidet es Begriffe wie "Verfassung", die hier oder dort Anstoß erregen würden.

Europa wird nicht vorankommen im Überschwang großartiger Projekte wie einer Europäischen Sozialordnung, die ökonomisch bedingte Ungleichheiten und gesellschaftliche Traditionen gewaltsam einebnet. Nur auf pragmatische Weise wird der europäische Fortschritt zu finden sein, trotz Nörgeleien in Prag, Anspruchsdenken in Warschau und Skepsis in London. Gustav Heinemann hat gesagt: "In der Politik kommt es auf den kleinen Schritt an, der der strategische ist, weil er die anderen unaufhaltsam nach sich zieht." Das gilt auch für Europa.

Quelle: ntv.de

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