Wieduwilts Woche

Wieduwilts Woche Markus Söder fällt durch die Reifeprüfung

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(Foto: picture alliance / SvenSimon)

Die Affäre um Hubert Aiwangers Schülerzeit ist längst eine des heimlichen Unionskanzlerkandidaten. Der Franke taktiert und laviert und macht sich damit klein.

Der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger, mit dem ich kürzlich noch einen Stall ausmisten wollte, hat sich nach unwürdigen Tagen zu etwas durchgerungen, was eine Entschuldigung sein sollte. Was sie betrifft, weiß man nicht, was sie betreffen könnte, schon: "Mein Kampf" und antisemitische Flugblätter im Besitz, Hitler-Parodien und Hitlergrüße, Witze bei KZ-Besuchen - wobei Aiwanger manches bestreitet, an anderes keine Erinnerung zu haben meint.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, liebe Leserin, lieber Leser, aber an die Zahl meiner Hitlergrüße habe ich eine glasklare Erinnerung (es sind null). Aber ich trage ja immerhin Verantwortung für eine ntv.de-Kolumne, für bayerische Wirtschaftsminister reicht da offenbar ein "weiß nicht".

Aiwangers Entschuldigung ist keine. Sie kennen das vermutlich schon: Konditionalentschuldigen, das ist die stets ultradumme Formulierung "Wenn ich Gefühle verletzt habe…, dann..." Man stelle sich das vor: Da steht ein Kind mit Fußball unterm Arm neben einer zerbrochenen Vase und sagt: "Wenn ich etwas kaputt gemacht habe, dann entschuldige ich mich!"

"Aber Böhmermann!"

Die Repliken des rechten Rands sind die immer gleichen: "Aber es ist ja nichts bewiesen!", "Es gilt die Unschuldsvermutung!", "Aber Scholz!" (wegen der fehlenden Erinnerung.) Und, aus welchen Gründen auch immer: "Aber Böhmermann!"

Es geht überhaupt nicht um den jungen Aiwanger, es geht um den mittelalten und darum, wie der mit seiner Verantwortung umgeht. Was der 16-jährige Hubsi gemacht hat, könnte egaler nicht sein. Wie der 52-Jährige so eine Situation handhabt, ist wichtig. Schiebt er die Verantwortung von sich, sucht er Ausflüchte, weicht er aus, wie Bernd Stromberg in der Capitol Versicherungs AG? Ja, ja und ja.

Aiwanger trägt kollektive Verantwortung. Das ist, wie Roman Herzog den Deutschen schon 1996 zu erklären versuchte, etwas anderes als kollektive Schuld. Ich habe keine Schuld am Holocaust, denn ich war nicht da. Ich trage aber Verantwortung für die Sicherheit der Juden in Deutschland, den Umgang mit unserer Geschichte und die Erinnerung an den Holocaust, weil ich mich qua Herkunft darum kümmern kann. So, wie ich ein zerknülltes Taschentuch vom Boden in den Mülleimer befördern kann, auch wenn ich es da nicht hingeworfen habe. In Führungsseminaren heißt das "Ownership".

Stromberg hätte es gefallen

Wie geht Aiwanger mit dieser kollektiven Verantwortung um? Er macht, unter anderem, Witze über ertrunkene Flüchtlinge im Mittelmeer. Unter ein Badebild von Dorothee Bär twitterte er 2016, da war er 46 und nach allen Maßstäben kein Jugendlicher mehr: "Doro, das sieht aus als wärst Du in Italien illegal eingereist, übers Mittelmeer." Der zynische Stromberg hätte begeistert durch die Nase geprustet.

Aiwangers Charakter ist das Problem - nicht ein Hitlergruß mit 16 oder ein Flugblatt. Nichts lässt uns so tief in Politikerherzen blicken, wie eine Krise. Das macht die Angelegenheit so interessant. Deshalb ist es irrelevant, wer das Flugblatt verfasst und verteilt hat, es ist unerheblich, ob es satirisch oder hetzerisch war. Aiwanger kann sich drum kümmern, weil er damit im Zusammenhang steht. Er hätte diese Krise nutzen können. Die Öffentlichkeit liebt reuige Sünder und Come Back-Geschichten. Sie hat schon ganz anderen ihre Vergangenheit verziehen.

Aber Aiwanger hat sich anders entschieden. Er will keine Verantwortung. Er will lieber trübe Lichtgestalt sein für alle, die einen Schlussstrich ziehen wollen unter diese lästige deutsche Vergangenheitssache mit Auschwitz da. Er ignoriert die Angst nicht nur der Juden in Deutschland, das braune deutsche Monster könnte doch noch einmal aus der Erde kriechen. Das ist beschämend und zu wenig für einen Minister in einer deutschen Landesregierung.

Braune Flecken auf Söders Hemd

Das Problem für Söder: Er will nicht loslassen. Er hält noch immer ein abgeschmolzenes Schokoladeneis in der Hand und hofft, dass er keine braunen Flecken aufs Hemd bekommt. Er verknüpfte teuflische Medientaktik mit willkommener Demütigungschance, als er Aiwanger 25 Fragen aufgab - die zweite Strafarbeit, die der Landwirt wegen des Flugblatts schreiben muss.

Söder beließ alles schön im Dunklen, damit niemand vollends beleidigt ist: Der Inhalt der Fragen ist unbekannt, er könnte Aiwanger also auch gefragt haben, ob er lieber süß oder herzhaft frühstückt. Söder und Aiwanger führen ein Bauerntheater auf vor der Kulisse historischer Schuld. Auch eine Frist setzte er zunächst nicht, forderte an diesem Freitag, als diese Kolumne erschien, eine Abgabe der Arbeit noch für denselben Tag.

Der Franke verschaffte sich mit seinem geheimen Fragenkatalog erst einmal Zeit und Gelegenheit, die öffentliche Windrichtung zu bestimmen, damit er sein Fähnchen entsprechend hinhängen kann. Verantwortung hätte geheißen, jemanden aus der Exekutive zu schmeißen, der über lange Tage demonstriert, dass er zu klein für die Hose eines Ministers ist.

"Schlussstrich drunter!"

Das Duo Söder Aiwanger hat damit im Spätsommer 2023 geholfen, am Schlussstrich unter die deutsche kollektive Verantwortung mitzuzeichnen. "Endlich!", seufzt der rechte Rand. Früher passierte das noch mit geballter Faust: Die FDP plakatierte 1949 "Schlussstrich drunter!" Schluss mit Entnazifizierung, Entrechtung, Entmündigung. Das ist ein Sound, den Rechtsextreme heute ganz ähnlich gegen die Grünen in Stellung bringen.

Heute wird der Schlussstrich schraffiert, zart und stetig. Die Versuche reichen vom Stammtisch bis zu historischen Streitschriften: Kürzlich ist in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ein neuer kleiner Historikerstreit ausgebrochen. Stephan Malinowski wirft dort dem Historiker A. Dirk Moses vor, zuletzt in einem Buch den Holocaust in eine Reihe zu stellen mit anderen Genoziden. Zuvor habe Moses den Deutschen eine "kultische Beschäftigung mit dem Holocaust" attestiert. Das würden Aiwanger und seine Fans vermutlich genau so gesehen.

Hier liegt die gewaltige Dimension des vermeintlich kleinkarierten Streits um Aiwangers Vergangenheitsbewältigung. Deshalb ist es zweitrangig, ob die "Süddeutsche" mit unwürdigem Verfolgungseifer agierte (tat sie) und welcher der Vorwürfe stimmt und welcher nicht (das weiß nur Aiwanger).

Die Marschrichtung ist rechts

Mit seiner Taktiererei hat Markus Söder geschmutzelt und sich als Kanzlermaterial disqualifiziert. Erstaunlich, was die panische Angst vor den Grünen und bayerischen Wutwählern alles anrichten kann.

Aber vermutlich täusche ich mich hier. Denn wie viele Menschen den Aiwangers der Republik für ihren Anti-Establishment-Sound zustimmen, muss sich noch zeigen. Ambivalenz und Empathielosigkeit in Sachen NS-Angst ist seit diesen Tagen kein Ausschlussgrund für ein politisches Amt mehr.

Die Marschrichtung in Deutschland ist klar rechts. Wir sollten uns nicht wundern, wenn Juden in Deutschland wieder häufiger von gepackten Koffern sprechen. KZ-Überlebende zeigten sich dieser Tage "entsetzt". Aber deren Gegenwind muss bald niemand mehr fürchten.

Quelle: ntv.de

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