"Die Uhr tickt" Immer mehr deutsche Firmen denken an Abwanderung
01.08.2024, 15:55 Uhr Artikel anhören
Hohe Energiepreise lasten auf dem Industrie-Standort Deutschland, warnt die DIHK.
(Foto: picture alliance / imageBROKER)
Wirtschaftsverbände beklagen schon lange im internationalen Vergleich hohe Energiepreise in Deutschland. Eine Umfrage zeigt, zu welchen Konsequenzen das führen kann. Die De-Industrialisierung schreite voran, warnt die Deutsche Industrie- und Handelskammer.
So viele Industriefirmen wie noch nie erwägen Verlagerungen ihrer Produktion ins Ausland. Bei größeren Unternehmen ist dies sogar mehr als jeder zweite Betrieb, wie die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) unter Verweis auf eine großangelegte Umfrage warnte. Hauptgrund sind die im internationalen Vergleich hohen Energiepreise. Alternativen zu Investitionen in Deutschland sind die USA und China, aber auch Frankreich. Aktuelle Daten belegen die gegenwärtig schwierige Lage der Industrie.
"Die Uhr tickt", sagte der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks. Die De-Industrialisierung schreite voran. In der Regel würden Verlagerungen ins Ausland schrittweise erfolgen. 37 Prozent der von der DIHK befragten rund 3300 Unternehmen gaben an, Produktionseinschränkungen oder eine Abwanderung ins Ausland in Betracht zu ziehen. 2023 waren es erst 31 Prozent, 2022 sogar nur 16 Prozent. Deutlich überdurchschnittliche Werte gab es bei Industriebetrieben mit hohen Stromkosten (45 Prozent) sowie mindestens 500 Beschäftigten (51 Prozent).
Dercks sprach von einem Alarmzeichen. Das Problem werde in den nächsten Jahren noch deutlicher werden. Er verwies auf niedrigere Energiekosten in den USA, Frankreich oder China. Die Grundfrage für mehr Planungssicherheit der Unternehmen sei, woher ab 2030 günstig und verlässlich die Energie kommen solle. "Hier fehlt die Perspektive." Beispielsweise werde der steigende CO2-Preis in Deutschland zu höheren Energiekosten führen, anders als etwa in den USA. "Die Betriebe erkennen weiterhin deutlich mehr Risiken als Chancen für die eigene Wettbewerbsfähigkeit."
Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine Anfang 2022 waren die Energiekosten zeitweise nach oben geschossen. Mittlerweile sind die Preise wieder zurückgegangen, im Vergleich zu anderen Staaten aber weiterhin hoch. Die Bundesregierung treibt zudem den Umbau hin zu grünen Energien voran. Kritiker bemängeln dabei viel Bürokratie und eine Einschränkung verfügbarer Ressourcen.
"Kein klares Konzept"
In der DIHK-Umfrage wurden Firmen aufgefordert, die Auswirkungen der Energiewende auf ihre Wettbewerbsfähigkeit zu bewerten - auf einer Skala von minus 100 bis plus 100 Punkten. Aktuell wird die Lage mit minus 20 Zählern bewertet. Das ist der zweitschlechteste Wert seit Beginn der Erhebung 2012. Nur 2023 wurde die Lage mit minus 27 Punkten noch schlechter eingeschätzt. "Während in den Jahren vor 2023 viele Unternehmen auch Chancen in der Energiewende für den eigenen Betrieb sahen, überwiegen zuletzt aus ihrer Sicht deutlich die Risiken." Laut DIHK wird die Eigenversorgung für Unternehmen immer wichtiger, etwa über Direktlieferverträge für Windenergie. Der Zugang zu Wasserstoff gewinne zudem an Bedeutung.
Der Politik sei es bisher nicht gelungen, den Unternehmen eine Perspektive für eine zuverlässige und bezahlbare Energieversorgung aufzuzeigen, sagte Dercks. "Während in den Jahren vor 2023 viele Unternehmen auch Chancen in der Energiewende für den eigenen Betrieb sahen, überwiegen zuletzt aus ihrer Sicht deutlich die Risiken." Hohe Energiepreise würden zunehmend zu einem Produktions- und Investitionshemmnis.
Die zunehmenden Pläne zur Produktionseinschränkung und -verlagerung und die tatsächlichen Verlagerungen zeigten, dass die energiepolitischen Standortbedingungen für alle Unternehmen in Deutschland inzwischen ein klarer Wettbewerbsnachteil seien, so die DIHK. Dies gelte besonders für die Industrie, für Industriebetriebe mit hohen Stromkosten und für die großen Unternehmen zum Beispiel im Maschinenbau und bei der Produktion von Industriegütern.
Dercks sagte, die Strompreise seien deutlich höher als vor Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, auch die Gaspreise seien deutlich höher als etwa in den USA. Noch entscheidender sei der Blick nach vorn. Es fehle die Perspektive. Für die Unternehmen sei kein klares Konzept ersichtlich, das sei die entscheidende Frage: "Schaffe ich Vertrauen und Zuversicht, was dann zu Investitionen führt?" Bei den Unternehmen komme an: mehr Bürokratie, mehr Berichtspflichten, komplizierte Genehmigungsverfahren.
Quelle: ntv.de, jga/rts/dpa