"Berühmte Widerstandskraft" Schwere Krise fordert Argentiniern viel ab
26.07.2024, 13:18 Uhr Artikel anhören
Die jährliche Inflationsrate in Argentinien liegt bei 271 Prozent.
(Foto: REUTERS)
Argentiniens Präsident Milei spart brutal - und das Land erlebt die schlimmste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten. Das bringt enorme Härten für die Menschen. Aber was tun?
Not macht erfinderisch. Als Alejandra, eine Straßenverkäuferin, in den vergangenen Monaten immer wieder miterlebte, wie sich Menschenmengen in der Innenstadt von Buenos Aires zu Antiregierungsprotesten versammelten, kam ihr ein Gedanke. Wo können diese Leute hin, wenn sich ihre Blase meldet? Vielleicht in eines der Cafés - aber um dort eine Toilette benutzen zu können, musste man etwas kaufen, für teures Geld. Und so startete Alejandra ein eigenes kleines Unternehmen, mit wenig mehr als einem Zelt und Eimer.
Und ihr Geschäft mit dem dringenden Bedürfnis ist gewachsen, parallel zu den Kundgebungen zorniger Argentinier und der Inflation. Ihr Preis für den Gang ins improvisierte stille Örtchen ist, was immer ein Kunde ihr anbietet. "Ich habe seit einem Jahr keinen Job gehabt, es ist jetzt mein einziges Einkommen", sagt die Argentinierin, die nur ihren Vornamen nennen will. Jeweils nach fünf oder sechs Kunden zieht sie Handschuhe an und leert den Eimer in den Müll.
Die Versäumnisse des politischen Establishments in den vielen Jahren der Krise im Land erklärt die Welle der öffentlichen Wut, die den reizbaren Javier Milei, einen selbsterklärten "Anarcho-Kapitalisten", ins Präsidentenamt katapultierte. Aber sie erklärt auch das Entstehen einer ungewöhnlichen Gesellschaft, die von Durchhaltevermögen, Einfallsreichtum und Pragmatismus geprägt ist - vielleicht heute mehr denn je, da Argentinien die schwerste Wirtschaftskrise seit seinem katastrophalen Auslandsschuldenausfall 2001 durchmacht.
"Es ist die berühmte Widerstandskraft von Argentiniern", sagt Gustavo González, ein Soziologe an der Universität von Buenos Aires. "Es ist das Ergebnis von mehr als drei Generationen, die mit widrigen Umständen, großer Unsicherheit und abrupten Veränderungen zu kämpfen hatten."
Weit verbreitete Armut
Der libertäre Präsident hatte gewarnt, dass die Dinge schlechter würden, bevor es bergauf gehe. Um Jahrzehnte von leichtfertigen Ausgaben, die Argentiniens Schuldenausfall bewirkten, umzukehren, hob Milei Hunderte Preiskontrollen auf. Er reduzierte Subventionen für Strom, Brennstoff und Transportmittel drastisch, was die Preise in die Höhe schnellen ließ - in einem Land, das bereits eine der höchsten Inflationsraten der Welt aufwies.
Milei entließ zudem mehr als 70.000 Staatsbedienstete, kürzte Ruhegehälter um 30 Prozent und fror Infrastruktur-Projekte ein, was Argentinien tiefer in die Rezession trieb. Die Verkäufe in den Supermärkten fielen im Juni um zehn Prozent. Der Internationale Währungsfonds senkte seine Wachstumsprognose 2024 für Argentinien, erwartet nunmehr ein Schrumpfen um 3,5 Prozent.
Schockierende 57 Prozent der 47 Millionen Einwohner des Landes sind jetzt von Armut betroffen, und die Inflation liegt auf Jahresbasis bei über 270 Prozent. "Argentinien ist an einem Wendepunkt", sagte Milei in seiner Rede zum Unabhängigkeitstag am 9. Juli. "Bruchpunkte in der Geschichte einer Nation sind keine Augenblicke von Frieden und Beschaulichkeit, sondern Augenblicke von Schwierigkeiten und Konflikt."
Gutbetuchte Argentinier haben mit dem Bunkern von 100-Dollar-Noten in Schließfächern reagiert und sich der Kryptowährung Bitcoin zugewandt, um den chronisch unter Wertverlust leidenden Peso zu meiden. Familien der Mittelschicht, deren Strom- und Gasrechnungen im Juni um 155 Prozent gestiegen sind, verzichten auf Annehmlichkeiten, die sie einst für selbstverständlich hielten. Kein Essen in Restaurants mehr, keine Reisen, keine Privatschulen.
Und: Der Verzehr von Fleisch ist auf den niedrigsten Stand gesunken, der bisher verzeichnet wurde, wie die auf Agrarprodukte spezialisierte Warenbörse Rosario berichtet - und das in einem Land, in dem gegrilltes Rindfleisch nicht nur ein Nationalgericht, sondern auch ein gesellschaftliches Ritual ist.
"Überlebe dank Suppenküchen"
Die offizielle Arbeitslosenrate hat sich in den vergangenen fünf Monaten um zwei Punkte auf 7,7 Prozent erhöht, aber diese Zahl erscheint bei Weitem niedriger, als sie wirklich ist, wie Experten sagen. Schließlich macht Argentiniens Untergrund-Wirtschaft etwa die Hälfte des Bruttoinlandsproduktes aus. Wachsende Arbeitslosigkeit und Armut hätten sogar noch mehr Argentinier dazu gezwungen, informelle Arbeitskräfte zu werden, sagt Eduardo Donza, Armutsforscher an der Katholischen Universität von Argentinien. "Diejenigen, die keinen Job haben, müssen einen erfinden."
Für den 34-jährigen Armando Fernández ist ein Besen ein Werkzeug zum Überleben geworden. Im vergangenen Monat verließ er seine verarmte Heimatstadt in der Provinz Santa Fe und ging Hunderte Kilometer zu Fuß in Richtung Süden, um Arbeit in Buenos Aires zu suchen. Jetzt fegt er Bürgersteige in der Hauptstadt, nimmt dafür, was immer ihm Ladenbesitzer an Pesos geben.
Da Milei die Axt auch bei den staatlichen Programmen zur Armutsbekämpfung angesetzt hat, verfügen die ärmsten Argentinier nicht mehr über die Mechanismen, die ihnen beim Überleben geholfen haben. "Politiker reden viel, aber tun nichts", sagt Fernández, während er einen Hühnereintopf verputzt, den das Solidaritätsnetzwerk austeilt - eine Wohltätigkeitsorganisation, die aus einer der zahlreichen Krisen in Argentinien hervorgegangen ist.
"Ich überlebe dank dieser Suppenküchen", sagt Fernández. Jeden Abend, an sieben Tagen in der Woche, stehen Hunderte Menschen wie er auf dem Platz am Präsidentenpalast Schlange, den das Netzwerk in einen Freiluftspeiseraum verwandelt.
Argentiniens Abwärtsspirale ist seit Langem in den südlichen Vororten von Buenos Aires sichtbar. Straßen sind ungepflastert, Abwasserleitungen reichen nicht in diese arme Gegend, in der Noelia López lebt. Auf einem Dachboden betreibt sie zusammen mit ihrem 21-jährigen Sohn Patricio den einzigen Waschsalon in diesem Elendsviertel. Wenn es morgens hell wird, bebt der Boden unter dem Rumpeln der Waschmaschinen, gefüllt mit Mänteln und Decken, die sie für etwa ein Dutzend Nachbarn pro Tag reinigen. Was sie während der Corona-Pandemie aus dem Stegreif starteten, um ihr Einkommen aufzubessern, ist jetzt ihr Lebensunterhalt geworden.
Quelle: ntv.de, Almudena Calatrava und Isabel Debre, AP