Soziale Frage umdefiniert Experte: AfD profitiert von gefühlter Entwertung der Ostdeutschen
04.07.2023, 12:01 Uhr Artikel anhören
Mit der Idee, "Wir hier drinnen gegen die da draußen" kann die AfD laut dem Soziologen Klaus Dörre bei den Menschen punkten.
(Foto: IMAGO/BildFunkMV)
Die AfD erlebt in ostdeutschen Bundesländern einen Aufschwung, stellt seit Parteibestehen erstmals einen Landrat und einen Bürgermeister. Der Erfolg der Partei beruht einem Soziologen zufolge auf Mustern, auf die auch Rechtsradikale setzen.
Die AfD profitiert in den ostdeutschen Bundesländern nach Ansicht des Soziologen Klaus Dörre von einer gefühlten Entwertung vieler Menschen. "Hier fühlen sich viele gleich dreifach abgewertet und missachtet: als Arbeiter, als Ossi, inzwischen auch als Mann", sagte der Jenaer Wissenschaftler dem "Spiegel". Die AfD bediene dabei das Bedürfnis der Menschen nach Anerkennung.
"Rechtsradikale werten sie auf, als Deutsche und Patrioten, als Angehörige einer Volksgemeinschaft, nicht einer Klasse." Dabei definierten sie die soziale Frage um - "nicht mehr als Konflikt zwischen Unten und Oben, Arbeit und Kapital - sondern zwischen Innen und Außen: Die Eindringlinge - Geflüchtete und andere Migranten - beanspruchen laut dieser Erzählung unser Volksvermögen, die müssen raus", erläuterte der Experte.
Die AfD erlebte in Umfragen zuletzt einen Höhenflug - erste Wirkungen sind zu sehen: Im südthüringischen Landkreis Sonneberg ist der AfD-Politiker Robert Sesselmann der erste AfD-Landrat Deutschlands, in Raguhn-Jeßnitz in Sachsen-Anhalt wurde ein AfD-Politiker zum hauptamtlichen Bürgermeister gewählt. In Thüringen wird die AfD vom Landesverfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft und beobachtet.
"Echtes Dilemma"
Dörre sagte dem "Spiegel", dass Gewerkschaften im Umgang mit der AfD vor einem "echten Dilemma" stehen. Teils gebe es unter Gewerkschaftsmitgliedern rechtspopulistische Haltungen und die Forderung nach einer politischen Neutralität der Gewerkschaften. Dabei gehöre der antifaschistische Grundkonsens "quasi zur Geburtsurkunde der Gewerkschaften", sagte Dörre. "Käme sie diesen Forderungen rechter Funktionäre nach, würde es sie zerreißen, massenhaft würden Linke und Mitglieder mit Migrationshintergrund austreten, nach wie vor ihre aktivsten Kerne."
Zugleich seien die Gewerkschaften im Osten aber schwächer als im Westen. "Würden sie kompromisslos gegen ihre rechtsorientierten Funktionsträger in den Betrieben vorgehen, verlören sie vollends den Rückhalt in den Belegschaften, bei denen diese oft ein hohes Ansehen genießen - und würden noch schwächer", so Dörre. Er sprach sich dafür aus, die Berechtigung vieler Entwertungsgefühle anzuerkennen. "Die Tarifkämpfe im öffentlichen Dienst, bei der Post und jetzt der Bahn zeigen, dass Gewerkschaften Selbstwert organisieren können: Arbeiter, nehmt die Köpfe hoch! Wir haben als Kollektiv Erfolg. Solche Erfahrungen sind wichtig."
Quelle: ntv.de, mba/dpa