Verdrehung der Wahrheit "Bullshit ist gefährlicher als Lügen"
23.08.2020, 18:58 Uhr
Bullshit ist nicht nur in der politischen Auseinandersetzung ein Problem.
(Foto: picture alliance/dpa)
Ian McCarthy ist Professor an der Simon Fraser University in Vancouver und erforscht dort - Bullshit. Sein Interesse gilt vor allem dem geistigen Bockmist, der im Arbeitsalltag produziert wird und der laut McCarthy haufenweise existiert. Seine neueste Studie hat er "C.R.A.P." genannt - was übersetzt "Scheiße" bedeutet, aber natürlich ein Akronym ist.
ntv.de: Professor McCarthy, Sie beschäftigen sich mit einem englischen Wort, das wir auch im deutschen Alltag benutzen: "Bullshit". Während es die meisten Menschen nur als derben Kraftausdruck benutzen, scheinen Sie von etwas völlig anderem auszugehen: Bullshit als wissenschaftlicher Begriff, der sich untersuchen lässt und der in der Gesellschaft sogar einen Sinn erfüllt. Ist das korrekt?
Ian McCarthy: Das ist richtig. Bullshit ist tatsächlich mehr als eine Beleidigung für alles, was wir für abwegig, unaufrichtig oder falsch halten. Seitdem der Philosoph Harry Frankfurt 1986 die Abhandlung "On Bullshit" veröffentlicht hat, ist ein wichtiger Fachbegriff für das entstanden, was wir im Englischen "misprepresentation of reality" nennen: also die Verdrehung, Verzerrung oder Verunglimpfung der Wahrheit. Menschen setzen sie gezielt ein, um Unwahrheiten zu verbreiten, oft allerdings - das ist wichtig! - ohne die Absicht zu lügen.
Was also ist Bullshit genau, wenn es keine Lüge ist?
Zu lügen und Bullshit zu verbreiten - wir sprechen im Englischen von "bullshitting" - sind zwei unterschiedliche Arten, mit der Wahrheit umzugehen. Die Lüge setzt voraus, dass die Wahrheit bekannt ist, aber absichtlich unterschlagen wird. Wer hingegen Bullshit verbreitet, ignoriert die Wahrheit, weil es entweder an Wissen oder an Interesse mangelt. Das macht Bullshit aus meiner Sicht gefährlicher als Lügen, weil Lügner einen Bezug zur Wahrheit besitzen, während ihn Bullshitter verloren haben oder niemals hatten. Anders gesagt: Wir kennen die Motivation hinter einer Lüge. Die Motivation hinter Bullshit lässt sich dagegen nicht in dieser Eindeutigkeit erschließen. Bullshitter sagen alles Mögliche, solange es ihrer Absicht dient. Sie betreiben ein Spiel mit der Realität, in dem die Kategorien "wahr" oder "falsch" keine Rolle spielen.
Können Sie das mit einem Beispiel veranschaulichen?
Wer eine Organisation leitet und weiß, dass Entscheidungen zu Entlassungen führen, diese jedoch verleugnet, hat die Wahrheit zumindest im Kopf und wird sein Handeln früher oder später danach ausrichten. Wer Bullshit verbreitet, lässt sich nicht von der Wahrheit leiten und empfindet sie auch niemals als Einschränkung oder Verpflichtung. Er erfindet sie.
Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Donald Trump behauptete im Jahr 2018 gegenüber dem kanadischen Premierminister Justin Trudeau, die USA hätten ein Handelsdefizit mit Kanada. Später erklärte er, keine Ahnung zu haben, ob das Defizit tatsächlich existiere. Damit outete sich Trump als Bullshitter, nicht als Lügner.
Ist Bullshit also nicht mehr als ein fauler Trick?
Ich verstehe Bullshit als eine Form der Kommunikation. Sie ist sehr verbreitet und in bestimmten gesellschaftlichen und geschäftlichen Situationen sogar absolut gängig. In Unternehmen gibt es haufenweise Bullshit und meistens fängt er mit der Sprache an. Denken Sie nur an betriebswirtschaftliche Phrasen wie "Boot Camps" oder "Hair Cuts". Das sind Metaphern, die zu Floskeln verkommen sind und die Realität absichtlich dramatisieren. Unternehmer sind immer wieder mit der Erwartung konfrontiert, diesen Bullshit zu verbreiten, um auf diese Weise Selbstvertrauen und Mut zu demonstrieren. Ich möchte so weit gehen, zu behaupten, dass Bullshit im Geschäftsleben nicht bloß toleriert, sondern zelebriert wird. In einem Artikel im Magazin "The Entrepreneur" stand geschrieben: "Bullshit ist gut für unsere Arbeit. Wir dürfen ihn nicht verurteilen, sondern sollten ihn verstehen - und nutzen."
Sie deuten an, dass Bullshit unterschiedliche Formen annehmen kann.
Korrekt. Es kommt immer auf den Zweck und die Absicht an - also das, was wir im Englischen "agenda", also Tagesordnung nennen. In neueren Untersuchungen unterscheiden wir etwa zwischen "persuasive bullshit" und "evasive bullshit". Das Erste ist eine Art von entstellter Wirklichkeit, die dazu dienen soll, andere zu überreden. Das Zweite ist eine defensive Art von entstellter Wirklichkeit. Sie soll eher verteidigen oder helfen, sich vielleicht in ein besseres Licht zu rücken und so Schaden abzuwenden. Eine andere Form ist "social bullshit", also Unsinn mit gesellschaftlichem Bezug, den Menschen einsetzen, um zu scherzen, andere zu ärgern oder zu unterhalten. Viele Menschen machen es, jeden Tag, überall. Darüber hinaus darf man nicht übersehen, dass viel Bullshit auch unbeabsichtigt verzapft wird, ganz einfach, weil es an Kenntnis mangelt und Bullshitter naiv, voreingenommen oder schlampig mit ihren Quellen sind. Ihnen ist also nicht einmal bewusst, dass sie intellektuellen Bockmist produzieren und verbreiten.
In Ihrer Forschungsarbeit, in der Sie sich mit Bullshit am Arbeitsplatz beschäftigen, stellen Sie die Behauptung auf, viele Unternehmen könnten sich vor Bullshit nicht retten. Können Sie das belegen?
Das ist eine großartige Frage, weil sie auf ein Statement hinweist, das selbst an Bullshit grenzt: Uns fehlen die handfesten empirischen Belege! Es ist die Schlussfolgerung aus den Aussagen vieler Mitarbeiter, die wir befragt haben. Sie klagen darüber, mit wie viel Bullshit sie in ihren Jobs zu tun haben und welche Bedeutung er einnimmt. Das Gute ist, dass das Bewusstsein für Bullshit zunimmt. Das führt dazu, dass Menschen langsam lernen, Unsinn zu hinterfragen, den sie hören.
Ist der Weihnachtsmann Bullshit?
Streng genommen muss ich als Wissenschaftler sagen, dass viele Aussagen über ihn nicht Bullshit, sondern Lügen sind. Schließlich glauben Eltern nicht, dass es ihn gibt, aber sie behaupten das Gegenteil.
Es gibt aber auch gute Lügen, sogenannte Notlügen, zum Beispiel mit der Absicht, Kinder nicht mit der Wahrheit zu belasten. Lässt sich in dieser Weise auch zwischen gutem und schlechtem Bullshit unterscheiden?
Wie Sie schon sagen, hängt es von der Absicht und vom Kontext ab. In unserer Arbeit konzentrieren wir uns auf Situationen, in denen wir auch gute Gründe für Bullshit erkennen können. Zum Beispiel kann Bullshit die Kreativität fördern und einen Sinn für Erneuerung schaffen, kurz: Mitarbeiter positiv motivieren. Im Unterschied dazu ist Bullshit sehr schädlich, wenn er die Menschen anstiftet, sich selbst oder anderen zu schaden. Aktuell fällt mir das Beispiel von Führungspersönlichkeiten ein, die Bürger weismachen wollen, dass sich das Coronavirus bekämpfen lasse, indem man Desinfektionsmittel trinkt oder spritzt. Ein anderes Phänomen ist der Bullshit, der in guter Absicht entstanden ist und am Ende Schaden anrichtet.
… also frei nach der englischen Redewendung "when bullshit hits the fan" - wenn alles schiefgeht und die Kacke richtig dampft?
Genau. Denken Sie an sogenannte "Strategien" in Unternehmen, die Chefs ausrufen, ohne einen Beleg dafür zu haben, ob ihre Pläne auch aufgehen. Solche Initiativen richten dann großen Schaden an, wenn sich herausstellt, dass die Strategie nicht funktioniert, dies aber von der Führung ignoriert wird. Sturheit und mangelnde Einsicht sind eine häufige Quelle von Bullshit.
Auf welche Weise ist es möglich und erforderlich, sich gegen Bullshit zu wehren?
In unserem Aufsatz erklären wir einen solchen Ansatz. Wir nennen ihn "C.R.A.P." …
… was nicht zufällig "Scheiße" bedeutet. Finden Sie das lustig?
Ich halte es für eine gute Eselsbrücke, da jeder Buchstabe für einen wichtigen Schritt steht, auf Bullshit zu reagieren: Das "C" bedeutet "comprehend". Es ist das Verstehen, warum Bullshit existiert und welche Absicht dahintersteckt. Das "R" steht für "recognize", also das Erkennen, wann Bullshit entsteht. Das "A" steht für "act against": was man gegen Bullshit tun kann. Und das "P" steht für "prevent", also Wege, Bullshit zu verhindern.
Das leuchtet ein. Doch ist "C.R.A.P." am Ende selbst nicht mehr als eine Liste mit hohlen Schlagwörtern - also Bullshit?
Lassen Sie es mich bitte noch einmal etwas genauer erklären. Unter "Comprehend" fällt die wichtige Unterscheidung zwischen Bullshit und Lügen. Ohne sie kommt man nicht weiter. Im zweiten Schritt, den wir "Recognize" nennen, erkennt man die Struktur der Irreführung. Hier analysiert man zunächst die Sprache und unterscheidet zwischen wahren und sinnvollen Aussagen auf der einen Seite und Floskeln, Plattitüden oder kaufmännischen Schlagwörtern auf der anderen Seite. In diesem Schritt ist es auch sehr wichtig, mit Daten und Visualisierungstechniken umgehen zu können. Im dritten Schritt "Act" wird reagiert: Entweder spricht man den Bullshit an und deckt ihn auf. Oder man verlässt den Dialog oder sogar das Unternehmen. Man kann sich auch beugen und loyal verhalten. Oder man schenkt dem Problem keine weitere Aufmerksamkeit. Im vierten und letzten Schritt "Prevent" erläutern wir eine Reihe von Maßnahmen, um die Produktion und Verbreitung von Bullshit zu vermeiden.
Die letzte Schritt scheint die schwierigste Aufgabe zu sein - wenn sie überhaupt möglich ist. Verraten Sie uns noch ein paar Kniffe?
Ich lebe nicht mit der Illusion, dass wir jemals in einer Welt ohne Bullshit leben und vor allem arbeiten werden. Aber wir sollten uns gegen die Flut stemmen. Ich halte es für sehr hilfreich, sich der folgenden fünf Punkte bewusst zu sein: erstens - Frage nach Belegen und schlüssigen Erklärungen. Zweitens: Lass dich nicht von Widersprüchen, Voreingenommenheiten und Floskeln in die Irre führen. Drittens: Mach diese Ansprüche zum Leitmaß für deine eigenen Beiträge, vermeide also selbst leere Redensarten, Augenwischerei mit Statistiken und scheinbaren Fakten. Viertens: Bemühe dich um eine Haltung der Aufrichtigkeit und zeige Verständnis dafür, dass wir alle empfänglich für Bullshit sind, selbst wenn wir die besten Absichten haben. Fünftens: Erkenne, dass viele und meist lange Meetings und Konferenzen den besten Nährboden und die größte Bühne für Bullshit bilden. Meide sie, wenn möglich! Lass dich nicht gedankenlos mitreißen! Und halte dich zurück, besonders, wenn du Zweifel hast!
Donald Trump haben Sie schon erwähnt. Wer sind darüber hinaus die größten und bekanntesten Bullshitter der Welt?
Ich möchte mit einer Annahme antworten, die so pauschal ist, dass sie ebenfalls Gefahr läuft, nicht mehr als Bullshit zu sein: Politiker und alle anderen Menschen, die etwas verkaufen wollen. Außerdem fällt mir eine Befragung von 40.000 Teenagern in englischsprachigen Ländern ein. Daraus ging hervor, dass Bullshitter oft ein übermäßiges Selbstvertrauen besitzen und sich selbst für besonders tüchtig, stressresistent und beliebt halten. Es kam auch heraus, dass männliche Tennager stärker zu Bullshit neigen als weibliche und dass sie häufig aus bessersituierten Familien stammen. Außerdem neigen Teenager in Nordamerika deutlich stärker zu Bullshit als ihre Altersgenossen in anderen Ländern.
Mit Ian McCarthy sprach Peter Littger
Quelle: ntv.de