Leben

Kunst bei der Design Week Digitale Lehmhütte verblüfft Mailänder

"Wir sind alle umweltbewusster geworden", findet der Künstler Marco Nereo Rotelli.

"Wir sind alle umweltbewusster geworden", findet der Künstler Marco Nereo Rotelli.

(Foto: A. Affaticati)

Was wollen wir mit der Zeit machen, die uns noch bleibt? Auf diese Frage antwortet der Künstler Marco Nereo Rotelli im Rahmen der Mailänder Design Week mit einer Installation, die anders ist, als sie scheint.

Mailand, Italiens Wirtschaftsmotor, springt wieder an. Den Startschuss hat vergangene Woche die DesignWeek gegeben. Die Stadt war wie ausgewechselt, endlich wieder lebendig und so bunt, wie man sie vielleicht nie zuvor wahrgenommen hatte. Überall Installationen, kreativ gestaltete Schaufenster. Auf einigen Gehsteigen lagen sogar aus vergoldeten Drähten geflochtene Kissen, auf denen sich die Leute ausruhten und plauderten.

Die Frage, mit der sich Designer, Architekten und Künstler diesmal auseinandersetzen sollten, hatte die Pandemie vorgeschrieben: Was haben uns die unzähligen Opfer des Coronavirus, die Monate des Lockdowns, die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie gelehrt? Haben sie unsere Einstellung zum Leben, zum Alltag, zu unseren Mitmenschen, zur Umwelt geändert? Und wenn ja, wie?

Eine der interessantesten Antworten auf diese Fragen gab die Installation von Marco Nereo Rotelli: eine kleine afrikanische Hütte, die den Titel "Falso Autentico", also "authentisch falsch" trug. Was sich im ersten Moment kryptisch anhörte, erwies sich bei näherer Betrachtung und Besichtigung der Installation als selbsterklärend. Die Hütte war aus Lehm gebaut, trug blaue Schriftzeichen und über dem Eingang stand das Wort "Respect". Einmal eingetreten, fand man sich in einer digitalen Welt aus Licht und Farben wieder. Dass die Hütte in einem der mittelalterlichen, begrünten Innenhöfe der Ca' Granda stand, gab ihr und den anderen Installationen der Veranstaltung "Creative Connections" noch mehr Ausdruck. Die Ca' Granda ist heute Sitz der Mailänder Staatlichen Universität, war aber ursprünglich das städtische Krankenhaus, dessen Bau Herzog Francesco Sforza 1456 in Auftrag gegeben hatte.

Rotelli will die Menschen zum Staunen bringen.

Rotelli will die Menschen zum Staunen bringen.

(Foto: A. Affaticati)

Marco Nereo Rotelli, Mitte 60, ist ein hochgewachsener, schlanker Herr mit schulterlangem, silberweißem Haar und markanter schwarzer Brille. In seiner Geburtsstadt Venedig hat er Architektur studiert, "schon damals waren meine Wegführer aber die Philosophen Massimo Cacciari und Franco Rella", erzählt er ntv.de bei einem Treffen in seinem Mailänder Atelier. Und so verschlug es ihn nach dem Universitätsabschluss statt in ein Architekturbüro in das Atelier des international renommierten Künstlers Emilio Vedova.

Staunen können erschließt neue Welten

Auf die Frage, warum er für die Designwoche die Lehmhütte gewählt hat, nimmt er sein Handy und zeigt auf ein Foto, auf dem ein kleines Mädchen zu sehen ist, das vor dem Eingang der Hütte steht und den Kopf hineinsteckt. "Man hat mir erzählt, dass die Kleine immer wieder rein und raus gegangen ist und ganz fasziniert war." Die Reaktion des Kindes sei seiner Meinung nach der Inbegriff dessen, was er zum Ausdruck bringen wollte.

"Die immanente Kraft dieser Hütte liegt meiner Ansicht nach in ihrer Fähigkeit, die Besucher zum Staunen zu bringen. Ich suche nämlich nicht nach dem Neuen, sondern nach neuen Beziehungen zu bekannten Dingen." Über etwas zu staunen bedeute die Fähigkeit, Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu erfassen, findet Rotelli.

Respekt ist das A und O des Miteinanders.

Respekt ist das A und O des Miteinanders.

(Foto: A. Affaticati)

Die Installation lockt den Besucher in zwei Welten, die entfernter nicht sein könnten, und doch hängen sie voneinander ab. "Diese Hütte, die es in Afrika noch gibt, ist auch vom Klimawandel betroffen. Daher das Wort 'Respect' über dem Eingang. Respekt vor anderen, gleich ob verschollenen oder noch gegenwärtigen, nahegelegenen oder entfernten, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen fußenden oder aus Lehm geformten Kulturen", fährt Rotelli in seiner Erklärung fort.

Auf eine der Türen seines großen, hellen Ateliers hat er ein Gedicht geschrieben, das mehr oder weniger so lautet: "Und du fragst dich, wo deine Träume sind, schüttelst den Kopf, wie schnell verfliegen doch die Jahre, und wieder fragst du dich, was hast du aus deinen Jahren gemacht, wo hast du deine schönste Zeit begraben, hast du gelebt oder nicht?" Könnte von Dostojewski sein, meint Rotelli, wirklich sicher ist er sich aber nicht.

Die Macht der Wörter

Gedichte spielen in seiner Arbeit eine wichtige Rolle, daher auch die Schriftzeichen auf der Hütte. 2001 lud ihn Harald Szeeman zur 49. Kunstbiennale in Venedig ein und er organisierte einen "Bunker poetico". Er sammelte alte Haustüren, ließ sie so, wie sie waren, und bat namhafte italienische Dichter, sich jeder eine Tür auszusuchen und einen Satz oder ein Gedicht darauf zu schreiben. "Die Dichter in dieses Projekt einzubeziehen, stellte die Utopie eines neuen Gesellschaftsmodells dar, in dem sich unterschiedlichstes Wissen begegnet."

Am Anfang seiner Künstlerkarriere war es das Licht, das Rotelli beschäftigte. Wie sollte es auch anders sein für jemandem, der mit den faszinierenden Lichtspielen der venezianischen Lagune aufgewachsen ist. Er versuchte, mit Farben die Zärtlichkeit des Lichts darzustellen. "Doch dann kam der Moment, in dem ich mich in der Kunstwelt, in der sich fast alles nur um Galerien und Sammler dreht, nicht mehr zurechtfand. Und so habe ich mich der Poesie genähert", sagt Rotelli. Während des ersten Jugoslawienkriegs sei er nach Jugoslawien gefahren und habe Gedichte plakatiert, die ihm italienische, kroatische, serbische und bosnische Dichter anvertraut hatten.

Seitdem sind Gedichte oder auch nur Sätze zum festen Bestandteil seiner Werke geworden. Gleich, ob es sich um große Lichtinstallationen handelt, mit denen er Plätze, historische Bauten, Installationen in Italien, in Frankreich, in den USA oder in Taiwan in ein Farbenmeer taucht, oder alte Türen in Kunstwerke verwandelt.

Doch Wörter können oft auch zu leeren Worthülsen mutieren. "Das stimmt. Nehmen wir die Begriffe 'Nachhaltigkeit' und 'Umwelt'. Wer sie heutzutage nicht verwendet, der wird einem Killer gleichgesetzt. Nichtsdestotrotz hat ihr fast schon zum Missbrauch ausartender Gebrauch etwas Positives", bemerkt Rotelli. "Wir sind alle umweltbewusster geworden." Denn mehr denn je müssen wir alle uns die Frage stellen: "Was wollen wir mit der Zeit, die uns noch bleibt, machen?"

Quelle: ntv.de

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