
Im Stadtteil Belval mischt sich die ehemalige industrielle Kernzone mit Wissenschaft und Wohnen, Kunst und Kultur.
(Foto: Juliane Rohr)
Banken, RTL und EU-Institutionen - soweit das Luxemburg-Klischee. Dazu kam viele Jahre Stahlindustrie. Jetzt erlebt Esch-sur-Alzette, die zweitgrößte Stadt des Großherzogtums, ein Comeback als Europäische Kulturhauptstadt, Zukunftsinkubator und Kunst-Hotspot.
Krachend fällt die fußballgroße Kugel in die raumfüllende Stahlspirale, rauscht lautstark vor den Augen der Besucherinnen und Besucher in die Tiefe. Landet an einem Aufzug, der das runde Teil aufpickt und wieder nach oben befördert. Dort poltert es eine andere Strecke samt Looping entlang. Was an eine überdimensionale Ziehungsmaschine für Lotterien oder eine Murmelbahn aus Kindertagen erinnert, ist ein Kunstwerk. "Distance" heißt die Installation. Sie schlängelt sich über drei Stockwerke durch die Konschthal in Esch-sur-Alzette.

Esch-sur-Alzette wandelt sich von der Stahl- zur Kunststadt. Tony Craggs Stahlskulpturen überstrahlen das Rathaus.
(Foto: Lukas Roth)
Die zweitgrößte Stadt Luxemburgs ist in diesem Jahr gemeinsam mit Kaunas in Litauen und Novi Sad in Serbien Europäische Kulturhauptstadt. "Remix Culture" ist das Motto von Esch2022. Sage und schreibe 2000 Events sollen die Region vibrieren lassen - in Form von Ausstellungen, Theaterstücken, Konzerten oder neuen Radwegen. All das findet sich bis zum Ende des Jahres in zehn luxemburgischen und in acht französischen Gemeinden.
Im Mittelpunkt aber steht Esch, das nur einen Steinwurf von Frankreich entfernt liegt. Die Stadt hat bis in die 1970er-Jahre als Industriezentrum den Wohlstand des Landes gemehrt. Hier wurde Eisenerz in Stahl verwandelt, die hier produzierten T-Träger sind noch heute in der ganzen Welt zu finden. Die Hälfte der Bevölkerung Luxemburgs ist eingewandert, viele kamen aus Portugal und Italien. Der Espresso, der - egal wo - angeboten wird, ist selbstverständlich italienisch. Drei Sprachen sind das gesprochene Minimum, Multikulturalität ist gelebte Realität.
Zeitgenössische Kunst im Möbelhaus
Die ehemalige Stahlstadt entwickelt sich mehr und mehr zu einem Hotspot für Kunst. Auf der Suche nach der neuen Seite in Esch landen Kunstliebhaber als Erstes in der Konschthal, die im Oktober 2021 eröffnet wurde. Auf knapp 2500 Quadratmetern wird in einem ehemaligen Möbelhaus zeitgenössische Kunst ausgestellt. Christian Mosar leitet diese Kunsthalle. Rohe Strukturen, Stahlträger, raue Betonböden und vereinzelt noch sichtbare Wellblechwände sind nicht gerade die perfekte White-Cube-Situation für Ausstellungen. "Wir werden das Thema der Veränderung und Transformation andauernd weiterentwickeln und je nach Ausstellung darauf reagieren. Für unsere Gregor-Schneider-Schau zur Eröffnung der Konschthal tauchten die Besucher komplett ab in die Welt des Künstlers. Vom Ausstellungsraum an sich war nicht viel zu sehen. Jetzt, mit der Kugelbahn von Jeppe Hein, ist alles geöffnet."

Christian Mosar und die Kugelbahn, die Jeppe Hein für die besondere Architektur der Koschthal erweitert hat.
(Foto: Christof Weber)
Der 54-jährige Kunsthistoriker stammt aus Esch und hat in Straßburg studiert, weil es damals keine Kunstakademie in Luxemburg gab. "Eigentlich dachte ich, dass ich niemals nach Luxemburg zurückkehren würde", erzählt er ntv.de lachend beim Espresso. Warum kam er doch zurück? "Das fing schon im Studium an, ich arbeitete frei in Museen und als Assistent für Künstlerinnen und Künstler in Luxemburg. Und plötzlich war ich wieder hier."
Transformation ausrangierter Orte
Was für ein Glück, dass er zurückkam, denn er ist engagiert, top vernetzt und kompetent. Mosar ist außerdem künstlerischer Leiter im Bridderhaus, das er in zehn Minuten mit dem Fahrrad von der Konschthal aus erreicht. Das Haus ist noch so eine spannende Transformation, bei der ein ausrangierter Ort mit Kunst und Leben gefüllt wird. In dem ehemaligen Krankenhaus sind künftig Künstlerateliers und ein Restaurant untergebracht. Essen in Luxemburg ist nicht unwichtig, die Dichte der Sternerestaurants ist enorm. Die Kunst ist schon ins Bridderhaus eingezogen, zwei Ausstellungen sind eröffnet. Der Schweizer Sébastien Mettraux hält in seiner Malerei die Abstraktion in Schweizer Bunkern fest. Überdies kann das Publikum hier Josef Stübben, einem Architekten aus dem vergangenen Jahrhundert und dessen urbanistischen Ideen für Esch, nachspüren.
Zurück in die Konschthal, wo mit "Metalworks. Designing & Making" ebenfalls auf die Geschichte der Stadt eingegangen wird. Anhand von 20 berühmten Designern wie Ron Arad, Konstantin Grcic oder Tom Dixon wird der Werkstoff Metall untersucht. Und gezeigt, was für stylische Stühle, Tische oder Garderobenständer daraus entstehen können. Das Design wird in der Konschthal zu kleinen Kunstwerken erhoben. Sie sind die leisen Gegenstücke zur laut polternde Stahlkonstruktion von Jeppe Hein. Christian Mosar hat "Distance" bewusst nach Esch geholt. Das Echte und Rohe der Installation verbindet sich geschickt mit geerbter und neuer Architektur. "Ich kenne die Arbeit seit zehn Jahren. Ich wollte etwas Raumübergreifendes, was viele Generationen anspricht, und konnte diesen Traum erfüllen." Die Bahn wecke das Kind in ihm, gibt er lachend zu - und im Publikum.
Der Berliner Künstler Jeppe Hein ist weltweit bekannt für seine Kunst im öffentlichen Raum, die mit Spiegelungen, Wasser und Kletterelementen gerne den Spieltrieb entfacht. Auch vor der Konschthal ist eine seiner lustig verformten Bänke platziert. Das weiße, wie ein A gebogene Sitzmöbel ist Teil des Skulpturenparcours "Nothing is permanent". Der geht quer durch Esch. Alex Reding ist dafür verantwortlich und er hat aus dem Vollen geschöpft. Luxemburger Künstler mischt er gekonnt mit internationalen Kunstgrößen. Der Luxemburger ist Tatendrang pur, verfügt über fundiertes Wissen und wohnt in seinem Ferienort mit Künstlern Tür an Tür. Wie Christian Mosar ist Reding einer der Luxemburger Köpfe, die das Machen für die Kunst zu 100 Prozent leben. In Luxemburg Stadt betreibt er seine Galerie Nosbaum Reding. Inzwischen gibt es eine Dependance in Brüssel. Er hat außerdem die Luxembourg Art Week etabliert. Mit der kleinen, feinen Kunstmesse lockt er im kommenden November zum achten Mal Besucher aus Luxemburg und den nahen Nachbarländern in ein Zelt voller zeitgenössischer Kunst. Das aber ist eine eigene Geschichte.
Neue Identität
Im Stadtteil Belval ist die Resilienz von Esch-sur-Alzette unübersehbar. Das Viertel kommt wie ein riesiger Inkubator rüber. Hier hat sich die Stadt vom harten Arbeiterviertel, mit verfallenen Gebäuden zur modernen Wissensstadt gewandelt. Endlich gibt es auch eine richtige Universität in Luxemburg und die ist hungrig nach Talenten. Belval selbst ist ein ambitioniertes Erneuerungsprojekt: Auf 120 Hektar und knapp 500 Meter von der französischen Grenze entfernt mischen sich wissenschaftliche Forschung und Lehre mit urbanem Wohnen, Kunst und Kultur. Das Ergebnis ist ein einmaliger Mix aus Überbleibseln der Stahlhütte, einem zur Aussichtsplattform umgewandelten Hochofen und hypermodernen Bauten, in denen gearbeitet und gewohnt wird.
Die Möllerei, in der ehemals Eisenerz und Koks lagerten, das nebenan in den Hochöfen zu Stahl geschmolzen wurde, ist jetzt ein Quell für digitale Kunst. In Zusammenarbeit mit dem renommierten Baseler Haus der Elektronischen Künste, kurz HEK, ist die Ausstellung "Earthbound - im Dialog mit der Natur" entstanden. Hier beschäftigen sich Künstlerinnen und Künstler in ihren Augmented- und Virtual-Reality-Werken, Videos, Installationen und KI-Arbeiten mit der Frage, wie "wir Technologien nutzen können, um unsere Umwelt besser zu verstehen", erklärt Françoise Poos, die künstlerische Leiterin der Kulturhauptstadt.

In alten Industriehallen visionäre Kunst, die sich mit dem ökologischen Wandel auseinandersetzt.
(Foto: Franz Wamhof)
Direkt neben ausrangierten Förderbändern wird "in dem postindustriellen Ort die Dringlichkeit, dass wir handeln müssen, unterstrichen. Medienkunst ist nicht immer eingängig, aber in der Möllerei wird Kunst zum Anfassen gezeigt, Emotionen produzieren die Nähe zur Umwelt", sagt Poos weiter. Und das geht so: Das Publikum kann dem Wald beim Atmen zusehen oder spüren, wie sich Vibrationen bei einem Erdbeben anfühlen. Gänsehautfeeling im siebtkleinsten Land Europas, das im 21. Jahrhundert angekommen ist. Nicht nur dank revolutionärer Medienkunst, sondern weil hier Menschen wie Christian Mosar engagiert Kugeln ins Rollen bringen.
Konschthal Esch, 29-33 Boulevard Prince Henri, 4230 Esch-sur-Alzette, "Metalworks" und "Distance" bis zum 4. September
Skulpturen Parcours "Nothing is Permanent" bis zum 11. November
"Earthbound" bis zum 14. August in der Möllerei, danach in Basel im HEK
Alle Informationen zum Programm der Europäische Kulturhauptstadt Esch 2022 finden Sie hier.
Quelle: ntv.de