
Der Jahrhunderttropfen kommt bernsteinfarben daher.
(Foto: Peter Littger)
Schon immer wollte unser Autor einen deutschen Riesling aus dem Jahr 1921 probieren. Denn der gilt als "Jahrhundertwein", der auch im Ausland Weltruf genießt. Pünktlich am Ende des Jubiläumsjahres wurde ihm dieser unerschwingliche Wunsch erfüllt.
Denken wir in Deutschland an "Die Zwanziger" vor 100 Jahren, kommen uns goldene Höhepunkte wie die Weltumfahrung des Zeppelins oder der cineastische Aufbruch in den Sinn. Liebhaber des deutschen Rieslings denken unterdessen an Zahlen - und an eine ganz besonders: 1921.
Schon früh war in Deutschland von einem "Jahrhundertjahrgang" die Rede und in Anbaugebieten wie Mosel, Nahe oder am Rhein sogar von einem "Geschenk Gottes". Zeitgenössisch wurde gedichtet: "Als Trost in Zeiten der Not und Schand' wuchs Einundzwanziger im Moselland".

Schloss Johannisberg steht in den Weinbergen oberhalb von Winkel in Hessen.
(Foto: picture alliance/dpa)
Auch im Ausland genoss der Jahrgang einen Weltruf: Harry Craddock, Barchef im Londoner Savoy Hotel, hatte dem deutschen Weißwein in seinem "Savoy Cocktail Book" ein eigenes Kapitel gewidmet. Er schrieb: "A magnificent vintage, considered the best for a generation or more. Particularly the Hocks are very full, round, and vinous. They have great keeping properties." ("Ein großartiger Jahrgang, gilt als bester seiner oder mehrerer Generationen. Besonders jene von Mosel und Rhein sind sehr vollmundig, rund und weinig.")
Viermal teurer als ein Bordeaux
Für Kenner war das Jahr unvergesslich geworden, seitdem das Weingut Maximin Grünhaus an der Mosel 1000 Liter seiner 1921er Herrenberger Trockenbeerenauslese für 100.000 "Goldmark" an das Waldorf Astoria Hotel in New York verkauft hatte - eine astronomische Summe. Die Wertschätzung hielt sogar über den Zweiten Weltkrieg hinaus an, obwohl Deutschlands Ansehen in der Welt zerstört war. Auf der Weinkarte des Shamrock Hotel in Houston kostete eine Beerenauslese vom Schloss Johannisberg 40 Dollar. Das war viermal mehr als der teuerste Rotwein aus Bordeaux, ein 1937er Haut-Brion.
Solche Empfehlungen und Geschichte können den Wunsch reifen lassen, den Jahrgang selbst einmal zu probieren. Philipp Heine von der "Weinbar" in Weimar riet dafür zur ältesten Rieslinglage der Welt und vermittelte den Kontakt: eben jenes schon erwähnte Schloss Johannisberg im Rheingau, oberhalb des hessischen Städtens Geisenheim.
Dabei tut es zur Sache, dass man vor Ort nicht immer die besten Erfahrungen mit den legendären 1921er gemacht hatte. Während der Verkostung einer Johannisberger Beerenauslese notierte der Leiter der Domäne 1984 lediglich vier Wörter: "Brotige Firne. Mittlere Qualität."
100 Jahre alt und trotzdem "neu"
Wenn es einen Moment gab, dem Jahrhundertwein eine neue Chance zu geben, dann war es das Jubiläumsjahr 2021 - das, am Rande bemerkt, ein äußerst nasses Jahr war, sodass seine Ernte nicht allzu viel Hoffnung macht. Auch vor 100 Jahren konnten nur kleine Mengen der Rieslingtrauben zu Most verarbeitet werden, weil ein ungewöhnlich heißer Sommer viele zerstört hatte. Was allerdings geerntet wurde, war sehr zuckerhaltig und aromatisch und besaß somit die Voraussetzungen für eine lange Zukunft.
In der Schatzkammer von Schloss Johannisberg, die reich mit lagerfähigen Jahrgängen gefüllt ist, die bis ins Jahr 1748 zurückführen, zählt der Jahrgang 1921 zu den neueren. Und weil dort außerdem noch mehr als eine Flasche lagert, hat sich Geschäftsführer Stefan Doktor entschlossen, eine aufzuziehen - in der Hoffnung, dass sich ein Geist entlocken lässt, der nicht schlapp und trübe, also hinüber ist.
Vom ersten Tropfen an viel Frucht
Schon das Öffnen der 1921 Johannisberger Beerenauslese mit dem Kellnerbesteck war vielversprechend! Dazu trug bei, dass der Korken vor 40 Jahren ausgewechselt worden war.
Ein 2020er Johannisberger Riesling diente dazu, die zarten Gläser der Marke "Zalto" auszuspülen. Am 17. Dezember um 18 Uhr floss die Beerenauslese aus der Flasche - klar und bernsteinfarben! Ihre "Nase" war reich an Aromen und versprach, dass der lange gereifte Wein noch seine volle Fruchtigkeit besitzt.
Tatsächlich war vom ersten Tropfen an viel Frucht zu schmecken: Mandarinenkompott, Orangen- und Zitronenschalen. Getrocknete Aprikosen, Rosinen, Apfel und Mango, das alles auf einem leichten Hefeteig. Dazu ein Hauch von Bergamotte wie im Earl-Grey-Tee, ein wenig Lakritze. Zimt. Tabakblätter. Bitterschokolade und Karamell mit ein wenig Salz.
"Die Säure ist ein großer Segen"
Stefan Doktor schmatzt laut mit dem Wein am Gaumen, wartet, schluckt - und sagt: "Der Reifeprozess ist Magie und Mysterium zugleich. Wir trinken eine Beerenauslese, die ursprünglich süß war, aber die wir heute nicht mehr als süß wahrnehmen, obwohl sich der Zucker noch im Wein befindet. Dadurch bleibt ihm das Cremig-Ölige", erklärt der Geschäftsführer von Schloss Johannisberg. "Die Säure, die junge Rieslinge dominiert, ist ein großer Segen. Sie hält den Wein frisch."
Bald kommen Bitternoten durch, aber nie unangenehm. Auch die dezente Schärfe einer Chilischote. Sogar Kohlaromen, ohne zu stören: der Stumpf eines Broccoli, der Geschmack von Kimchi. Und geräucherter, fetter Fisch. Das ist Umami - vor 100 Jahren noch völlig unbekannt.
Purer Luxus!
Alles, was man schmeckt, passt zusammen, ist im Gleichgewicht. Besonders beeindruckend ist, dass sich der Geschmack in der Mundhöhle weiterentwickelt, obwohl sie längst leer ist. Nach einigen Minuten hüllt Minze die Früchte ein. "Das sind die ätherischen Öle, die in Verbindung mit Sauerstoff auch die Zitrusaromen freigesetzt haben", sagt Doktor. Es ist ein Abschluss, der noch Stunden später am Gaumen haftet.
War diese Flasche ihren geschätzten Preis von 20.000 Euro wert? (Im Februar 2020 hatte die Versteigerung einer 1920er Beerenauslese 18.000 Euro erzielt.) Wahrscheinlich sollte man das gar nicht beantworten, wenn man es sich nicht leisten kann. Ohne Zweifel war es ein außerordentliches Erlebnis, gerade wenn man schon viel Wein getrunken und geschmeckt hat im Leben. Dieser 1921er war auf seine Weise einzigartig und perfekt. Vielleicht mit mehr als 1000 Aromen. Damit ist er unvergesslicher als jeder Kleinwagen. Aber auch viel vergänglicher. Das Fazit lautet also: purer Luxus! Womöglich einer der größten, den man in Deutschland bekommen kann.
Quelle: ntv.de