Den Weihnachtsbesuch absagen? "Ausreden sind besser als Eskalation"
22.12.2024, 10:13 Uhr Artikel anhören
Alle Jahre wieder kracht's an Weihnachten? Das muss nicht sein, sagt der Psychologe und Psychotherapeut Peter Kaiser.
(Foto: picture alliance / dpa)
Weihnachten gilt als Fest der Liebe und Besinnung. Doch für viele Familien gipfeln die Feiertage in Streit und Enttäuschung - und das alle Jahre wieder. Wie sich Zoff unterm Christbaum verhindern lässt und was zu tun ist, wenn es bereits gekracht hat, verrät der Psychologe und Psychotherapeut Peter Kaiser.
ntv.de: Jedes Jahr aufs Neue bedeuten die Feiertage für viele Familien Stress und Streit. Doch warum gibt es eigentlich immer wieder Zoff an Weihnachten?
Peter Kaiser: An Weihnachten kommen häufig Angehörige zusammen, die sich während des ganzen Jahres gar nicht oder nur wenig sehen und deshalb nicht gut aufeinander eingespielt sind. Allein diese Konstellation ist schon konfliktanfällig. Außerdem können unterschiedliche Berufe, Bildungsgänge, Lebensvorstellungen oder auch Vermögensverhältnisse dazu führen, dass sich einzelne Familienmitglieder unverstanden oder benachteiligt fühlen. Außerdem sind Patchworkfamilien immer verbreiteter, für die Zeit- und Organisationspläne eine echte Herausforderung sind. Sprich: Welcher Familienteil wird an welchem Tag und in welcher Reihenfolge besucht? Wenn dann auch noch Ex-Partner ins Spiel kommen, die sich nicht grün sind, wird es besonders heikel.
Hinzu kommt, dass alle unterschiedliche und zum Teil sehr hohe Erwartungen an die Festtage haben: Es soll alles schön und harmonisch sein, aber was man darunter genau versteht, darüber gibt es eben ganz individuelle Auffassungen und Vorstellungen, die untereinander meist nicht abgeglichen sind. Es handelt sich also um unausgesprochene Erwartungen, über die erst gesprochen wird, wenn die Enttäuschung bereits da ist.
Also sollte man sich am besten im Vorfeld über einen Ablaufplan abstimmen?

Prof. Dr. Peter Kaiser ist Diplom-Psychologe und Mediator und forscht unter anderem zu Familienpsychologie und Konfliktmanagement.
(Foto: Peter Kaiser)
Definitiv, jeder hat doch so eine Art eigenes Drehbuch im Kopf. Der eine legt Wert auf einen Weihnachtsbaum, andere möchten unbedingt in die Kirche. Einige Familienmitglieder legen Wert auf gemeinsames Singen und für andere muss eine bestimmte Speisenfolge eingehalten werden. An Weihnachten kommen eine Menge Erwartungen zusammen, die emotional stark aufgeladen sind. Sich intensiv über diese Vorstellungen auszutauschen und gemeinsam zu überlegen, wie ein harmonisches Miteinander aussehen soll, kann spätere Missstimmungen vermeiden.
Wo kommen diese hohen und teils sehr genauen Erwartungen an das Weihnachtsfest her?
Das hat viel mit Kindheitserinnerungen zu tun. Nehmen wir etwa Paare: Die jeweiligen Herkunftsfamilien haben unter Umständen ganz unterschiedliche Weihnachtssitten und -gebräuche, und diese machen sich als Gewohnheiten im Kopf breit. Außerdem werden Erinnerungen an die eigene Kindheit häufig verklärt und dürfen nach Auffassung vieler Menschen nicht angetastet werden.
Allerdings wird an Weihnachten nicht nur über Sitten und Bräuche gestritten, sondern häufig auch über Politik. Wie sollte man damit umgehen?
Politische Überzeugungen ändern sich in der Regel nicht durch Argumente, die am Weihnachtsabend ausgetauscht werden. Das ist also eine weitere enttäuschungsanfällige Erwartung. Deswegen ist es besser, auf solche Themen gar nicht einzugehen. Und wenn es doch zu politischen Diskussionen kommt: Freundlich das Thema wechseln und darauf hinweisen, dass man unterschiedlicher Auffassung sein kann, diese aber nicht unbedingt an Weihnachten diskutiert werden müssen. Heikle Themen sollten möglichst umgangen werden.
Also Vermeidungsstrategien statt knallharter Ehrlichkeit?
Man sollte sich vorab die Frage stellen: Was will ich erreichen und was will ich vermeiden? Will ich ausgerechnet am 24. Dezember meine Angehörigen mit meinen Ansichten konfrontieren, auch wenn klar ist, dass sie sie unerträglich finden und vielleicht in Wut geraten? Weihnachten ist ja nicht das Fest, um politische Meinungen oder religiöse Überzeugungen oder Lebenseinstellungen auf den Prüfstand zu stellen. Sondern man will ein gemeinsames familiäres Miteinander erleben und sich ein paar gemütliche Stunden oder vielleicht auch Tage bereiten.
Es geht also um einen freundlichen und wohlwollenden Umgang, darum, anderen ihre Eigenarten und Meinungen zu lassen und zuzugestehen und den Blick eher auf Gemeinsamkeiten zu richten. Anstatt sich in einer aufkommenden Diskussion zu verlieren, kann man auch gemeinsam singen oder sich um den Braten oder den Baumschmuck kümmern. An Weihnachten sollte man darauf achten, Gemeinsamkeit zu pflegen und nicht brennende Themen weiter zu vertiefen. Dafür ist man ja schließlich nicht zusammengekommen.
Und was, wenn es doch zum Streit kommt?
Wenn die Emotionen hochschlagen, dann gibt es eigentlich nur eine Lösung - und die lautet: für Beruhigung sorgen. Wenn wir streiten, steigt der Stresspegel, und unter Stress setzt die Denkfähigkeit aus – wir werden kopflos. Durch das physiologische Stressgeschehen wird im Körper Energie freigesetzt, die einen kampf- und fluchtbereit machen soll. Diese Energie wird aus dem Gehirn abgezogen, weswegen bei Stress die Denkfähigkeit sinkt. In der Regel dauert es 15 bis 20 Minuten, bis der Organismus wieder runtergefahren ist. Am besten geht man sich also für eine gewisse Zeit aus dem Weg, bis eine vernünftige Ansprache überhaupt wieder möglich ist. Weiter zu debattieren ergibt keinen Sinn, da die Aufnahmefähigkeit des Gehirns unter Stress zu stark leidet.
Könnte man sich all das nicht ersparen und den Familienbesuch an Weihnachten einfach ausfallen lassen?
Die Feiertage sollen dazu dienen, sich zu erholen und zu sich zu kommen und mit den Menschen, mit denen man sich eng verbunden fühlt, eine ruhige gemeinsame Zeit zu verbringen. Eine Absage an die übrige Familie kann also eine sinnvolle Strategie sein. Man sollte nur darauf achten, dass man klar und ehrlich kommuniziert; zum Beispiel, indem man sagt, dass man lieber wegfahren oder allein sein möchte. Wichtig ist außerdem, dass man das Ganze rechtzeitig und freundlich mitteilt, sodass andere nicht kurzfristig enttäuscht werden.
Dafür braucht es in der Familie eine gewisse Kommunikationsgrundlage. Was, wenn es die nicht gibt?
Dann kann man sich immer noch eine sozialverträgliche Ausrede einfallen lassen, zum Beispiel, dass man Corona bekommen hat oder stark erkältet ist. Das ist auf jeden Fall besser für den Familienfrieden, als es auf eine Eskalation ankommen zu lassen.
Was ist an Weihnachten denn eher die Regel – Eskalation oder Familienfrieden?
Eine Statista-Erhebung aus dem vergangenen Jahr, aber auch meine Erfahrungen als Psychotherapeut und Mediator zeigen: Nur eine Minderheit erlebt größere Streitereien an Weihnachten. Die Mehrzahl der Familien weiß, wie sie es sich an Weihnachten schön machen und sich aufeinander einstellen können. Sie freuen sich auf die Feiertage.
Mit Peter Kaiser sprach Aljoscha Prange
Quelle: ntv.de