"Die Abbildung der Ideen" Einmal die Locken von Michelangelos David anfassen


Das Ehepaar Grassini mit "Lui e Lei" (2015) des Künstlers Giuliano Vangi.
(Foto: Museo Omero)
"Das Berühren der Figuren mit den Pfoten ist verboten" - den Spruch kennt man aus der Kindheit und aus Museen. In Ancona ist es ausdrücklich erwünscht, berühmte Skulpturen mit den Händen zu erkunden. Aldo Grassini erzählt, wie er und seine Frau auf die Idee eines Anfass-Museums kamen.
Die Ehrfurcht vor Michelangelos David ist so groß, dass man sich fast scheut, seine Locken, die Nase, die Lippen zu berühren. Andererseits - wann ist es schon mal in einem Museum erlaubt, die Skulpturen anzufassen? Doch gerade das darf man, besser gesagt, soll man im Museo Omero in der italienischen Hafenstadt Ancona. Es soll in erster Linie blinden Menschen die Möglichkeit geben, ungestört die Form eines Kunstwerks tastend zu entdecken, doch auch die Sehenden sind herzlich eingeladen, durch einen anderen Sinn diese Kunstwerke zu erkunden.
"Normalerweise sind wir auf die Beschreibung der Begleiter angewiesen", erzählt Aldo Grassini ntv.de. Zusammen mit seiner Frau hat der 84-Jährige das Museum ins Leben gerufen. Beide sind blind, was sie aber nicht davon abgehalten hat, ihrer Leidenschaft für Kunst nachzugehen. "Wir haben ganz Europa bereist", fährt Herr Grassini fort, "und jetzt widmen wir uns anderen Kontinenten".
Grassinis Büro im Museo Omero hat seinen Sitz in der Mole Vanvitelliana. Die Mole ist ein beeindruckender Bau, gleich beim Hafen. Entworfen wurde sie von einem namhaften Architekten des 18. Jahrhunderts, Luigi Vanvitelli. Der pentagonale Grundriss verleiht dem Gebäude etwas Festungsartiges, ursprünglich war die Mole aber ein Lazarett.
Menschenrechtskonvention vs. "Berühren verboten"
Aldo Grassini erzählt von der Frustration, überall mit dem Verweis konfrontiert zu werden: "Berühren verboten". Natürlich gebe es Kunstwerke, bei denen das Verbot Sinn ergebe, "aber was kann ich einer ägyptischen Skulptur, aus einem einzigen Granitblock gemeißelt, schon anhaben, wenn ich sie ertaste?", fragt er.
Eine Frage, die das Paar nicht losließ und sich 1985 in eine Lebensaufgabe verwandelte. Sie waren da gerade in Augsburg und hatten wieder einmal frustrierende Erfahrungen mit den Vorschriften gemacht. Beim Abendessen kam seiner Frau Daniela dann die Idee, ein Museum für Blinde zu errichten.
Grassini erinnert an die Menschenrechtskonvention von 1948, in der steht: "Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben."
Gesagt, getan. Man klopfte an alle Türen, wandte sich an die Kommunalverwaltung, an die regionalen Institutionen, an Funktionäre, an Schulen, kurz und gut an alle, die eventuell dazu beitragen konnten, die Idee in Tat umzusetzen. Auch fachkundige Beratung zog man hinzu, um zu wissen, welche Werke ein Skulpturenmuseum, das die Kunstgeschichte von den Alten Griechen bis hin zur Gegenwart darstellen will, haben muss.
Der Dichter Homer als Wegweiser
Acht Jahre später war es dann so weit, eine Schule hatte ein paar leere Klassenzimmer zur Verfügung gestellt, in diesen konnten die ersten 19 Skulpturen ausgestellt werden - alle hergestellt aus dem Originalabdruck. Es gibt noch Werkstätten, die das machen. Das war aber nur ein erster Schritt. "Ich war damals Präsident des Blindenverbands der Region Marche. Außerdem bin ich ein Dickschädel, der nie loslässt." Die Ausdauer wurde belohnt: Im September 2017 übersiedelte das Museum Omero in die Mole Vanvitelliana und ist seitdem Teil der Museumsdirektion der Region Marche.
Die Wahl des Namens erklärt sich von selbst. Der blinde Dichter Homer schrieb seine zwei Werke, die Illias und die Odyssee, Kraft seines Vorstellungsvermögens. "Eine Fähigkeit, die auch durch das Berühren geweckt und gefördert wird. Kurven, Wölbungen, Flachstellen, Kanten sind für uns wie Puzzlesteine, die in unserem Kopf ein vollendetes Bild ergeben", sagt Herr Grassini.
Heute verfügt das Museum über 200 Kunstwerke, die im 2. und 3. Stock der Mole zu besichtigen sind. "Die erste Skulptur, die ich antasten, besser gesagt streicheln wollte, war die Venus von Milo" erinnert sich Herr Grassini während des Rundgangs durch die Säle. Und natürlich gibt es davon auch ein Exemplar.
Der Anblick der Gemälde ist, obwohl es Kopien sind, ergreifend, weswegen man vorsichtshalber noch einmal fragt, ob man den Poseidon aus Bronze wirklich berühren darf? "Ja, das darf man. Er ist aber nicht aus Bronze", korrigiert Alessia Varricchio, eine enge Mitarbeiterin von Herrn Grassini, "sondern aus Harz, genauso wie die kapitolinische Wölfin, Roms Wahrzeichen." Während die Form und die Größe dieser Kopien dem Original 1:1 entsprechen, sind die Materialien oft andere. Zum Beispiel statt Marmor ist es hier Gips. "Das macht aber nichts", erklärt Frau Varricchio weiter, "weil für eine blinde Person das wichtigste die Form ist."
Und so tastet man sich weiter an der Nike von Samothrake, an den altrömischen Versionen des Diskophoros und des Diskobolus, an der Verzückung der Heiligen Theresa, ein Meisterwerk des Gian Lorenzo Bernini. Auch das Pantheon in Rom und den Dom von Florenz gibt es zum Betasten.
Ostberlin 1983, im Pergamon-Museum
Und immer wieder erzählen die Grassinis neue Anekdoten. "Es war im Jahr 1983, als wir zum ersten Mal mit zwei Freunden, die auch blind waren, nach Ostberlin fuhren. Unser Ziel war das Pergamon Museum. Wie überall wies uns auch dort ein Museumswächter darauf hin, nichts anzufassen. Der Mann war mit einer Kollegin im Dienst, die ihm widersprach. Das sei doch ein unsinniges Verbot bei Blinden. Die Debatte der zwei wurde so heftig, dass sie uns nicht mehr beachteten und wir in Ruhe die Werke betasten konnten."
Das Omero Museum hat sich im Laufe der Jahre einen Namen auch im Ausland gemacht. In Madrid gibt es auch ein Blindenmuseum, dessen Schwerpunkt aber Archäologie ist und außerdem privat ist. Als öffentliche Einrichtung ist das Museo Omero noch ein Unikat, weswegen wichtige Museen vorstellig wurden und Kooperationen anboten. Zu diesen gehören auch das Louvre in Paris und das Nationale Archäologische Museum in Kairo. Bei letzterem wurde das Omero für die Einrichtung von drei Flügeln mit betastbaren Exponaten um Rat gebeten.
Plato und seine Idee über die Ideen
Neben den Meisterwerken der Kunstgeschichte gibt es auch einen Bereich gegenwärtiger Kunst. Bei diesen Werken handelt es sich um Originale, die zum Großteil von den Künstlern dem Museum geschenkt wurden.
Da ist unter anderem das Werk "Italy Recycled", eine acht Meter lange Holzstruktur, die den Stiefel abbildet. Der Künstler Michelangelo Pistoletto hatte das Werk 2012 für die damalige Biennale von Venedig angefertigt. "Meine Frau und ich waren zu dieser Biennale gereist", erzählt Herr Grassini. "Und da das Werk am Boden lag, hatten wir uns hingekniet, um es zu ertasten." Zuerst war ein Journalist auf sie aufmerksam geworden und hatte gefragt, ob er sie fotografieren dürfe. Kurz darauf kam Pistoletto selbst und unterhielt sich mit dem Paar. Ein Jahr später schenkte der Künstler dem Museo Omero das Werk.
Ein Gemälde gibt es aber schon - es handelt sich um Picassos Guernica, genauer gesagt einen Abschnitt davon. Dieser wurde von Studierenden der Seniorenuniversität unter der Führung von Kunstprofessoren geschnitzt und dem Museum geschenkt.
Das Museum ist natürlich für alle zugänglich. Voriges Jahr waren von den 27.000 Besuchern gerade einmal 10 Prozent sehbehindert. Wer möchte, kann den Rundgang auch mit verbundenen Augen machen. "Was in Ordnung ist", sagt Grassini, "aber nicht unbedingt notwendig. Auch ein Sehender erlangt über das Tasten neue Erkenntnisse." Eine Feststellung, die an den altgriechischen Philosophen Plato erinnert, der die Meinung vertrat, die sichtbare materielle Welt sei nur die Abbildung der Ideen.
Quelle: ntv.de