Panorama

Ein Jahr nach schwerem Erdbeben Lage in der Türkei und Syrien noch immer katastrophal

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Allein in der Türkei beläuft sich der wirtschaftliche Schaden Schätzungen zufolge auf mehr als 103,6 Milliarden Dollar.

Allein in der Türkei beläuft sich der wirtschaftliche Schaden Schätzungen zufolge auf mehr als 103,6 Milliarden Dollar.

(Foto: dpa)

Am 6. Februar 2023 erschütterten zwei Beben der Stärke 7,7 und 7,6 die Grenzregionen zwischen der Südosttürkei und dem Norden Syriens. Rund 60.000 Menschen starben, davon 53.496 allein in der Türkei. Zehntausende wurden verletzt. Der Schaden und die Auswirkungen in der Türkei sind enorm. Die Lage in Syrien ist noch immer unklar, die UN warnt vor Kinderhandel und lebensbedrohlichen Gesundheitsrisiken. Die verheerenden Auswirkungen im Überblick:

Lage in der Türkei:

In der Region Hatay leben noch immer Hunderttausende Menschen in Notunterkünften.

In der Region Hatay leben noch immer Hunderttausende Menschen in Notunterkünften.

(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

UN-Schätzungen zufolge waren in Syrien 8,8 Millionen Menschen vom Erdbeben betroffen, in der Türkei nach offiziellen Angaben 14 Millionen Menschen in elf Provinzen. 3,5 Millionen Menschen hatten die Südosttürkei zunächst verlassen - ein Teil ist inzwischen zurückgekehrt. Nach Angaben des Innenministeriums leben in der Türkei mehr als 690.000 Menschen in Containern - die meisten davon in der Provinz Hatay, die am stärksten getroffen wurde. Auch wenn die türkische Regierung angibt, dass alle Zeltstädte aufgelöst wurden, lebt noch immer eine unbekannte Anzahl von Menschen in Zelten.

Das kann unterschiedliche Gründe haben. Einige haben nach eigenen Angaben Angst, in ihre Häuser zurückzukehren, die als leicht beschädigt eingestuft wurden. Andere wollen in der Nähe ihres alten Viertels bleiben. Rund 38.900 Gebäude stürzten nach Angaben der Katastrophenschutzbehörde Afad vollständig ein. Rund 200.000 Gebäude wurden so schwer beschädigt, dass ihr Abriss nötig wurde. UN-Schätzungen zufolge sind zwischen 116 Millionen und 210 Millionen Tonnen Schutt entstanden - das ist etwa zehnmal so viel wie bei dem letzten großen Erdbeben in der Nähe Istanbuls im Jahr 1999. Afad zufolge wurde ein Großteil des Schutts inzwischen abgetragen.

Wirtschaftlicher Schaden

Die Erdbeben haben auch die Wirtschaft getroffen. Die Menschen in der Südosttürkei leben vor allem von Landwirtschaft, Viehzucht und Beschäftigung in der Industrie. Zehntausende Nutztiere verendeten nach offiziellen Angaben durch das Erdbeben. Laut einem Bericht der Strategie- und Etatdirektion des Präsidialamts richtete das Erdbeben keine großen Schäden in Industrieanlagen an. Allerdings fehle es an qualifizierten Arbeitskräften und Infrastruktur sei beschädigt worden. Die Direktion schätzt den durch das Erdbeben verursachten gesamtwirtschaftlichen Schaden auf 103,6 Milliarden US-Dollar (ca. 95,8 Mrd. Euro) - etwa neun Prozent des türkischen Bruttoinlandsprodukts 2023.

Verringertes Wiederaufbau-Versprechen und Wahlkampf

Rund 38.000 Gebäude sind infolge des Erdbebens eingestürzt.

Rund 38.000 Gebäude sind infolge des Erdbebens eingestürzt.

(Foto: IMAGO/SOPA Images)

Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat versprochen, die Region wieder aufzubauen, und sagte im April 2023, er wollte innerhalb eines Jahres rund 300.000 Wohngebäude errichten. Auch wenn in den Erdbebenregionen neue Siedlungen hochgezogen werden, schien dieses Ziel kaum erreichbar - und wurde von Erdoğan inzwischen angepasst. Am Samstag sagte er bei einem Auftritt in der Provinz Hatay, er wolle 200.000 Wohneinheiten bis Ende 2024 übergeben. Etwa 75.000 davon sollen innerhalb der nächsten zwei Monate fertiggestellt werden.

Dieser Auftritt und seine Versprechen fallen auch in die Wahlkampfzeit in der Türkei. Am 31. März finden landesweite Lokalwahlen statt. Hatay wird bisher oppositionell regiert. Erdoğan möchte mit seinem Kandidaten die Region für sich gewinnen. Deshalb fügte Erdoğan auch deutlich hinzu, wer nicht mit der Zentralregierung zusammenarbeite, dem könne nicht richtig geholfen werden.

Suche nach Verantwortung

Erdoğan und seine Regierung waren nach dem Beben scharf kritisiert worden. Etwa wurden ihnen Fehler beim Krisenmanagement vorgeworfen. Zudem gerieten sogenannte Schwarzbauten in den Fokus, die illegal errichtet und dann später von der Regierung legalisiert worden waren. In mehreren Verfahren sollen nun Baumängel aufgearbeitet werden. Einer der ersten großen Prozesse ist etwa der um den Einsturz des Isias-Hotels in Adiyaman, in dem 72 Menschen starben. Unter anderem stehen dort der Besitzer und der Architekt vor Gericht.

Inwieweit auch Verantwortliche in Behörden zur Rechenschaft gezogen werden, bleibt abzuwarten. Zur Gesamtzahl an Strafprozessen durch das Erdbeben gab das Justizministerium keine Auskunft. Die Organisation Human Rights Watch kritisierte jüngst die juristische Aufarbeitung. Zwar seien mit dem Bau Betraute angeklagt worden, es sei aber noch "kein einziger Beamter, gewählter Bürgermeister oder Stadtratsmitglied wegen seiner Rolle bei der Genehmigung zahlreicher Bauprojekte, die weit hinter den Standards für sicheres Bauen zurückblieben" vor Gericht gestellt worden.

Auswirkungen auf Gesundheit

Sorge bereiten Medizinern mögliche Langzeitschäden durch giftige Stoffe wie Asbest, die etwa durch die Schäden an Gebäuden in die Umwelt gelangen konnten. 12 von 66 Proben, die die Türkische Ärztevereinigung TTB zwischen Ende August und Mitte September in Kaharamanmaras und Adiyaman in der Erdbebenregion genommen hat, waren mit Asbest verunreinigt. Auch in einer separaten Untersuchung der Umweltingenieurskammer in Hatay sei in rund einem Drittel der Proben der Giftstoff nachgewiesen worden.

Die Proben wurden demnach etwa in Schuttbergen, aber auch auf dem Gehsteig genommen. Die TTB kritisiert, dass Schutt ohne Vorsichtsmaßnahmen beseitigt und zu nah an Notunterkünften abgelagert wurde. Asbest ist nachweislich krebserregend und wurde auch in der Türkei bis zum Verbot etwa für die Dämmung von Gebäuden verwendet. Die Ärztevereinigung warnt daher davor, dass "Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen von Menschen" einem potenziell tödlichen Risiko für ihre Gesundheit ausgesetzt seien.

Lage in Syrien:

Auch in Syrien sind die verheerenden Folgen deutlich spürbar, genaue Angaben zu den Opfern aus dem Bürgerkriegsland sind jedoch schwer zu ermitteln. Nach Angaben der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte kamen bei den Beben in ganz Syrien rund 6800 Menschen ums Leben. Die Vereinten Nationen gehen jedoch davon aus, dass rund 8,8 Millionen Menschen in Syrien von den Auswirkungen der Beben betroffen waren. Mehr als 11.000 wurden verletzt. Tausende mussten ihre Heimatorte verlassen.

UN sieht erhöhte Risiken für Kinder

"Nach den Beben waren besonders Kinder Schutzrisiken ausgesetzt", sagte Lorena Nieto vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR bei einem Besuch eines Rehabilitationszentrums bei Dschindires. Viele Kinder seien von ihren Familien getrennt worden. Sowohl Eltern als auch Kinder selbst seien noch immer auf der Suche nach Informationen zu ihren vermissten Angehörigen. "Ein anderes Problem ist Kinderarbeit", sagte Nieto.

Familien hätten oft nicht mehr genug Einkommen zum Überleben. Die Gefahr, dass Kinder dabei ausgebeutet würden, sei noch immer sehr groß. Durch die im Bürgerkrieg verursachte und durch das Erdbeben verstärkte Armut stelle auch Menschenhandel mit Kindern aus den Gebieten eine große Gefahr dar, warnte Nieto.

Zunahme von Crush-Syndrom

Viele Kinder litten zudem unter dem Crush-Syndrom, wobei aus gequetschten Muskeln Eiweißklümpchen austreten, die die Niere verstopfen, was rasch zum Nierenversagen führen kann. Dabei sammeln sich giftige Substanzen im Blut an, die normalerweise mit dem Urin ausgeschieden werden. Mit einer Dialyse (Blutwäsche) im frühen Stadium kann sich die Niere wieder erholen. Nach Angaben der örtlichen Gesundheitsbehörden wurde bei Hunderten der verletzten Menschen das Crush-Syndrom diagnostiziert, die genaue Zahl ist nicht bekannt.

Quelle: ntv.de, gri/dpa

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