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Frühe Normalität war "Fehler" Lauterbach: Sind an der Schwelle zu Kontrollverlust

Doro Steitz und Karl Lauterbach im Gespräch: Der SPD-Gesundheitspolitiker sieht derzeit keine Begründung für eine breite Verteilung der Drittimpfung.

Doro Steitz und Karl Lauterbach im Gespräch: Der SPD-Gesundheitspolitiker sieht derzeit keine Begründung für eine breite Verteilung der Drittimpfung.

Die Impfkampagne läuft schleppend, die Inzidenz steigt - laut SPD-Politiker Lauterbach rächt sich nun, dass Deutschland zur Normalität übergegangen ist, obwohl noch zu wenige Menschen geimpft sind. Vielerorts werde das Leben wieder so gelebt, "als ob es Corona nicht mehr gäbe", sagt er bei ntv.

ntv: In NRW gibt es Großstädte mit einer Inzidenz von schon über 200. Das hat Sie zu der Bemerkung veranlasst, NRW verliere die Kontrolle. Können Sie uns erklären, was Sie damit gemeint haben?

Karl Lauterbach: Die Inzidenz steigt jetzt in NRW sehr stark. Sie verdoppelt sich zum Teil in vielen Städten innerhalb einer Woche. Wenn man das jetzt nach vorne denkt, dann ist das natürlich eine Situation, wo wir sehr viele Infektionen innerhalb von kurzer Zeit erwarten müssen. Wir haben noch einen nicht unerheblichen Teil von Ungeimpften in NRW. Darunter sind auch viele, die im Risikoalter sind. Von daher glaube ich nicht, dass wir das durchlaufen lassen können. Und zum jetzigen Zeitpunkt sind wir an der Schwelle, die Kontrolle zu verlieren. Wenn es noch ein paar Wochen so geht, dann haben wir sehr hohe Inzidenzen, gerade bei den Ungeimpften. Wir werden dann bei den Ungeimpften, wenn man das umrechnet, bei über 1000 liegen.

Wir hatten ja eigentlich gehofft, dass wir durch die Impfung die vierte Welle verhindern können. Das funktioniert ja offensichtlich nicht und wir haben noch nicht einmal Herbst.

Genauso ist es. Die Delta-Variante ist so viel ansteckender, dass diese Strategie nicht aufgeht. Erstens ist der Impferfolg zurückgegangen. Das heißt, wir impfen zwar noch weiter, aber nicht mehr in dem Umfang, wie es eigentlich notwendig wäre. Und zum Zweiten, mit der Delta-Variante ist es fast unmöglich - oder sogar unmöglich - zu einer Herdenimmunität zu kommen, weil die Schutzwirkung der Impfstoffe nicht hoch genug ist, um zu verhindern, dass auch diejenigen sich infizieren können, die schon doppelt geimpft sind. Und wir haben zu viele Ungeimpfte.

Diese ganzen Maßnahmen, an die wir uns über die Pandemie hinweg gehalten haben - Maske tragen und Abstand halten -, sind die bei Delta immer noch wirksam?

Das wirkt immer noch, es wird aber nicht mehr so praktiziert, wenn man sich die Großstädte hier so anschaut. Ich bin jetzt zum Beispiel hier in Köln. Da werden die Abstände in der Regel - oder sehr häufig - nicht eingehalten und das Leben wird wieder so gelebt, als ob es Corona nicht mehr gäbe. Corona ist aber noch da und wir sehen hier allesamt einen Disziplinverlust. Ich glaube, es war auch ein Fehler, so früh schon die Normalität auszurufen, bevor wir nicht mehr Impfungen praktizieren konnten.

Und spielen Kinder und die Schulen auch eine Rolle?

Ich glaube, dass die Kinder und Schulen bis jetzt keine so großen Rollen spielen, die Schule ist ja erst seit einer Woche auf. Die Grundschule beginnt gerade. Somit werden die Kinder in den nächsten Wochen eine Rolle spielen. Es kann sich aber noch nicht ausgewirkt haben, weil der Schulstart so spät war.

Und was müsste aus Ihrer Sicht jetzt passieren, um die Kontrolle wiederzuerlangen?

Wir handeln jetzt besser früh, als dass wir noch warten. Denn wenn wir noch warten, dann werden wir so hohe Fallzahlen haben, dass die Einschränkungen, die wir dann verhängen müssen, weitergehend sind. Somit wäre ich sehr dafür, dass wir, so viel wir können, die 2G-Regel schon einsetzen. Ich weiß, dass die 2G-Regel eine starke Einschränkung ist. Vielleicht können wir sie staatlicherseits auch gar nicht vorgeben. Aber dass wir da an die Unternehmen, an die Restaurantbesitzerinnen, an die Fitnessclubs appellieren, von der 3G-Regel Abstand zu nehmen und so viel wie möglich die 2G-Regel zu praktizieren.

Eine aktuelle Studie aus Israel zeigt, dass nach einer Impfung die Zahl der Antikörper sehr schnell sinkt, jeden Monat um 40 Prozent. Bei Genesenen sind es nur 5 Prozent. Was bedeuten diese Ergebnisse?

Wir haben es ja auch in anderen Studien schon gesehen: Die Antikörperanzahl bei den Geimpften, mit Biontech insbesondere, geht relativ schnell zurück. Das bedeutet aber nicht, dass die Geimpften keinen Impfschutz mehr hätten, sondern tatsächlich wirkt die Impfung ja über viele andere Prozesse, insbesondere über die zelluläre Abwehr. Somit kann man davon ausgehen, und das sehen wir auch in den Studien, dass die Geimpften trotzdem vor schweren Verläufen und vor Tod durch Covid geschützt sind. Aber es ist tatsächlich so, dass die Geimpften sich noch infizieren können. Die Infektion führt dann auch dazu, dass die so Infizierten - das sind dann wenige, also es infizieren sich wenige, die geimpft sind - dann auch zum Teil ansteckend sind. Sie sind aber nicht mehr sehr stark ansteckend, nicht mehr stark ansteckend. Und wie gesagt, sie erkranken nicht stark und sie versterben nicht an Covid.

Bedeutet das jetzt, dass wir die Booster-Impfung früher brauchen?

Die Daten sind noch zu frisch und müssen analysiert werden, das muss repräsentativ untersucht werden. Zum jetzigen Zeitpunkt ist davon auszugehen, dass bis auf Risikopatienten, also Hochbetagte oder diejenigen, die geimpft sind und Risikofaktoren haben, zum Beispiel immunsupprimiert sind, wir den Rest der Geimpften in diesem Jahr nicht nochmal impfen müssen. Im nächsten Jahr würde das dann reichen, wenn der Impfschutz weiter an Wirkung verloren hat. Aber eine schnelle dritte Impfung, dafür gibt es zum jetzigen Zeitpunkt nicht wirklich eine gute Datengrundlage.

Wie beurteilen Sie dann die Anstrengungen, vielen Menschen ab September so eine Booster-Impfung zu ermöglichen?

Bei denjenigen, die beispielsweise vor zehn Monaten geimpft worden sind und keine Risikofaktoren haben und die nicht hochbetagt sind, haben wir keine Impfdurchbrüche der Art, dass derjenige, der sich als Geimpfter infiziert hat, schwer erkrankt. Die Grundlage einer dritten Impfung für diese Menschen ist noch nicht gegeben. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass in anderen Ländern noch gar nicht geimpft wurde beziehungsweise noch nicht einmal das medizinische Fachpersonal geimpft werden konnte.

Mit Karl Lauterbach sprach Doro Steitz

Quelle: ntv.de

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