Groenke in den Kant-Garagen "Manche Orte prägen uns, lange bevor wir sie verstehen"


Groenkes Kunst ist sensibel, düster, manchmal positiv, rätselhaft und doch fast selbsterklärend.
(Foto: G. Groenke [UN]HAPPY MEAL Acrylic, Mix Media. 20x14 in, 50x35 cm. Berlin, Germany 2024)
Monatelange Dunkelheit, vergiftete Luft und das Wissen, dass dieser Ort von Menschen aufgebaut wurde, die gegen ihren Willen dorthin gebracht wurden - all das prägte die Kindheit von Gulia Groenke. Die Künstlerin stellt in den Berliner Kant-Garagen aus und hinterlässt tief beeindruckte Besucher. Mit ntv.de spricht sie über Permafrost, Heimat und Humor.
Berlin Kantstraße, Restaurants, so weit das Auge reicht, vom "Lovis" bis zur "Paris Bar" und dazwischen 1000 Asia-Läden wie das "893 Ryotei", das "Funky Fish" oder "Madame Ngo", das "Kuchi", "Le Duc" und so viele andere. Sie wechseln sich ab mit Galerien, schicken Blumenläden und Orten, an denen Menschen Torten für besondere Gelegenheiten kaufen. Und Nagelstudios - die gibt es auch zuhauf. Dazwischen die Kant-Garagen, in denen man nicht mehr parken kann. Aber das passt zu der Straße, die sich monatlich neu erfindet und in der seit Jahren um jeden Millimeter für Fußgänger, Autofahrer (Autoparker) und Radfahrer gekämpft wird. In den Kant-Garagen, im obersten Stockwerk, stellt momentan und noch bis Ende Januar Gulia Groenke ihre Werke aus. Die Ausstellung heißt "Minus 10" und hat nichts mit den - gefühlten - Berliner Temperaturen im Winter zu tun.

Gulia Groenke: "Ich habe gelernt, dass das Unerwartete oft neue Perspektiven eröffnet, in der Kunst wie im Leben."
(Foto: Gulia Groenke )
"Manchmal stellen wir uns als Kinder Fragen, auf die wir erst viele Jahre später Antworten finden. Für mich begann diese Reise mit der Frage: 'Warum bin ich hier?'", erzählt sie ntv.de beim Besuch vor Ort. Und als ob die Bilder nicht schon aussagekräftig genug wären, werden sie gewissermaßen zusammengehalten von dem unvergleichlichen Ambiente dieser ehemaligen Garage, in der früher Reifen quietschten und verbotene Rennen gefahren wurden.
Geboren wurde Groenke 1974 in Norilsk, einer Stadt in Nordsibirien in der Sowjetunion, die sich nicht leicht erklären lässt: "Sagen wir mal so: Ich wurde früh mit Extremen konfrontiert - monatelange Dunkelheit, vergiftete Luft und das Wissen, dass dieser Ort von Menschen aufgebaut wurde, die gegen ihren Willen hierher gebracht worden waren - all das prägte meine Kindheit und meine Wahrnehmung." In ihrer Kindheit und Jugend lernte sie aus erster Hand die widrigen Umstände eines Lebens im Permafrost und in einer Industriestadt kennen, die aus den stalinistischen Arbeitslagern der 1930er bis 1950er Jahre, den sogenannten Gulags, hervorging. Im jungen Erwachsenenalter zog es sie daher schnell nach Westeuropa, wo sie sofort Fuß fasste.
Lose Puzzleteile
Norilsk ist eine Stadt der Gegensätze. Während die Luft oft nach Metall riecht und der Himmel im Winter endlos dunkel ist, haben die Menschen gelernt, inmitten dieser Bedingungen zu überleben. Sie sind stark, geduldig und mutig - sie riskieren ihre Gesundheit für das Leben, das sie gewählt haben. Warum aber ziehen die Menschen dorthin? "Weil hier mehr bezahlt wird, überdurchschnittlich viel Urlaub und ein erheblich niedrigeres Renteneintrittsalter geboten werden", erklärt Groenke ntv.de.

"Seit Jahren höre ich Gerüchte über eine große, geheimnisvolle, verbotene sibirische Stadt, (...) mit geisterhaften, eisähnlichen Gebäuden und dem Ruf, einer der am stärksten verseuchten Orte auf unserem Planeten zu sein." (Gus Kopriva, Präsident des Redbud Arts Center in Houston, Texas)
(Foto: G. Groenke, CITY X. Acrylic, Mix Media, 30x30 in, 76x76 cm. Hope, USA 2022)
Doch diese Stärke hat ihren Preis: "Das Leben hier ist oft um ein Jahrzehnt kürzer", fährt sie fort und meint damit zum Beispiel auch das Leben ihres Vaters. "Meine Erinnerungen an Norilsk sind wie lose Puzzleteile, die sich erst mit der Zeit zu einem Gesamtbild zusammenfügen." Ihre Ausstellung betrachtet die 50-Jährige daher auch als eine "Collage dieser Erinnerungen", als eine Mischung aus melancholischen Gefühlen, Farben und Texturen, die die Stimmung dieses Ortes einfangen. Und wieder die Anmerkung: Man kann sich fast keinen perfekteren Raum für Groenkes Kunst vorstellen als die Kant-Garagen, mit ihrem rauen Charakter, ihrer Geschichte, aber stets im Fortschritt und in Veränderung begriffen.
Suche nach Antworten
Denn es geht Groenke nicht nur um das Dunkle, das Düstere, es geht ihr um die Momente des Humors, um das Überraschende und das Schöne, das entsteht, wenn Dinge zusammenkommen, die anscheinend nicht zusammengehören. Diesen Eindruck bekommt man hauptsächlich dann, wenn sie persönlich ihre Geschichte erzählt: Groenke wirkt weder verbittert noch hart, sie erzählt leicht und wunderbar von schweren Momenten, von der Kälte, die geherrscht hat. Und vom Feuer in der Wohnung, das sie fast alle umgebracht hätte, das aber nach Wochen ohne Heizung und bei Minusgraden nur allzu nachvollziehbar ist.

"Die Gegend ist ein isolierter, baumloser Ort, umgeben von rötlichen Gletscherflüssen, die während eines neunmonatigen Winters weniger als zwei Monate lang nachts beleuchtet werden."
"Diese Serie ist für mich zutiefst persönlich. Sie erzählt nicht nur die Geschichte eines Ortes, sondern auch meine eigene - die eines Mädchens, das nach Antworten sucht und schließlich lernt, dass die dunkelsten Orte oft das größte Licht in sich tragen. Mit meiner Kunst erforsche ich diese Widersprüche."
Hinter der Fassade
Groenke arbeitet mit verschiedenen Medien - Druck, Malerei und Fotografie - und erschafft vielschichtige, collagierte Kompositionen, die die Betrachter geradezu hinter die Fassade ziehen. Und so sehr sie auch in ihrem jetzigen Leben zwischen Berlin und den USA angekommen ist - Norilsk ist ihre Heimatstadt.

"Seit seiner Gründung im Jahr 1936 weiß die Welt nur wenig über diesen Ort, der postapokalyptischer Natur zu sein scheint. Bis jetzt gab es kaum Literatur oder Kunst über dieses Gebiet."
"Als Kind war das ein totales Rätsel für mich", erzählt sie beim Rundgang: "Warum war die Luft manchmal blau, warum roch sie oft nach faulen Eiern? Warum konnte ich die Sonne im Winter nie sehen?" Norilsk ist die nördlichste Großstadt der Welt mit 174.453 Einwohnern und neben Murmansk die einzige Großstadt in der kontinuierlichen Permafrostzone. Sie wurde von Zwangsarbeitern erbaut und gilt heute als eine der schmutzigsten und depressivsten Städte der Welt. Es gibt keine Straßen von und nach Norilsk, man kann sie mit dem Flugzeug erreichen oder per Schiff - natürlich nicht das ganze Jahr.
"Ich wollte weg"

"Permafrosting" heißt dieses Bild - die Wände des Hausflurs waren gefroren, die Wasserleitungen geplatzt, Wärme holte Gulia sich mit einer Zigarette in die Wohnung.
(Foto: G. Groenke, PERMAFROSTING. Acrylic, Mix Media. 47x33 in, 120x85 cm. Berlin Germany, 2024)
Die Ausstellung trägt, wie bereits erwähnt, den Namen "Minus 10" - "einen Titel, der sowohl die geografische und klimatische Realität meiner Heimat beschreibt als auch die durchschnittlich zehn Jahre kürzere Lebenserwartung der Menschen, die dort leben", sagt Groenke. "Ich wollte dort weg", sagt sie, auch wenn für andere durchaus ein Leben in Norilsk möglich ist.
"Die Menschen, die dort bleiben, haben eine besondere Stärke", fährt sie fort, "sie leben zwar in einer Umgebung, die ihre Gesundheit bedroht, aber sie finden Wege, zu überleben - mit Geduld, Humor und einer bemerkenswerten Resilienz".
Licht in den dunkelsten Ecken
Groenkes kreative Neigung zeigte sich bereits in ihrer Kindheit und später, als sie bei einem etablierten Modeunternehmer arbeitete. Ihrer künstlerischen Tätigkeit begann sie allerdings erst nachzugehen, nachdem sie ihrem Ehemann in die USA folgte. Dort fand sie sich auf einmal umgeben von renommierten Künstlern, die für ihre Initialzündung zur Künstlerin sorgten. Groenkes Repertoire reicht von abstraktem Expressionismus bis zu surrealistischen und fotorealistischen Ansätzen. Inhaltlich bearbeitet sie meist Themen von gesellschaftlicher Relevanz.
"Minus 10" ist für Groenke ihre Art der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und ihrer Identität. Ihre Kunst ist persönlich, aber auch universell, sie erzählt von Widerstandskraft und der Suche nach Licht in den dunkelsten Ecken des Lebens.
Zehn Jahre weniger
"Minus 10" ist gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse weniger politisch als viel mehr gesellschaftlich zu betrachten - die Ausstellung zeigt das Leben einfacher Menschen in Regionen, die den meisten von uns eher fremd sein dürften: In den Wintermonaten herrschen in Norilsk fast durchgehend Dunkelheit und durchschnittliche Temperaturen von minus 40 Grad Celsius. Im Sommer leidet man dafür an Schlaflosigkeit, da es nie dunkel wird.

Eines von Groenkes Hauptwerken, "Core Exploitation" (2020), zeigt einen riesigen kreisförmigen Krater in der Nähe der Stadt.
In der Russischen Föderation lag zum Zeitpunkt der Entstehung des Kerngemäldes dieser Ausstellung "Minus 10" die durchschnittliche Lebenserwartung der Bevölkerung bei 67 Jahren. In Norilsk allerdings wird man oft nur 57 Jahre alt - so wie Groenkes Vater.
Groenke löst beim Betrachter einiges an Emotionen aus, das sollte den Besuchenden klar sein: Sich diese Kälte vorzustellen, ist fast unmöglich. Der Künstlerin gelingt es trotzdem, die Betrachter an diesen Ort zu bringen und sich eines Lebens bewusst zu werden, das außerhalb unserer Vorstellungskraft liegt. Norilsk erinnert an einen Ort in einem frühen James-Bond-Film, wo die Bösewichter sofort zu erkennen waren. Wer glaubt, die Welt zu kennen, wird bei "Minus 10" eines Besseren belehrt - und das ist so lehrreich wie schmerzhaft zugleich.
Die Ausstellung "Minus 10" ist bis zum 31. Januar in den Kant-Garagen (Kantstraße 127, 10625 Berlin) zu sehen, Dienstag bis Sonntag, 12 bis 20 Uhr.
Quelle: ntv.de