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Tumulte, Mordvorwürfe, Revision? Riesige Verwerfungen nach umstrittenen Freisprüchen im Dramé-Prozess

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Nach den fünf Freisprüchen im Prozess um den Tod des 16-jährigen Mouhamed Lamine Dramé kommt es noch im Gerichtssaal zu kleineren Tumulten. Davor streiten sich die Prozessbeteiligten um Fragen der Gerechtigkeit, die die 31 Verhandlungstage am Dortmunder Landgericht hätten klären soll.

Große Erleichterung auf der einen und Verzweiflung auf der anderen Seite. Die fünf Freisprüche im Prozess um den am 8. August im Alter von 16 Jahren von fünf Polizeikugeln getöteten Mouhamed Lamine Dramé war nicht dazu geeignet, die an dem Mammutprozess beteiligten Parteien zu versöhnen. Die Staatsanwaltschaft will eine mögliche Revision prüfen, die Anwältin der Nebenklage sieht im Urteil eine Sache "mit der sich der BGH beschäftigen muss". Der größte Prozess gegen Polizisten seit dem Zweiten Weltkrieg hat einen höchst umstrittenen Abschluss gefunden.

"Das soll Gerechtigkeit sein?", frage die Familie des Getöteten. "Das ist Gerechtigkeit", sagte die Verteidigung. "Das war Mord", skandierten die Aktivisten im Zuschauerbereich des Saals 130 im Dortmunder Landgericht. "Verlassen Sie den Saal", sagten die Justizbeamten zu den Journalisten. Vor dem Saal wiederum wünschte sich ein Verteidiger Verständnis für das Urteil. "Es ist ja schließlich Weihnachten", sagte Christoph Krekeler, der bei dem Prozess den Todesschützen vertreten hatte.

Die Brüder des Getöteten, Lassana (r.) und Sidy (2.v.l.) verfolgen seit Januar den Prozess.

Die Brüder des Getöteten, Lassana (r.) und Sidy (2.v.l.) verfolgen seit Januar den Prozess.

(Foto: picture alliance/dpa)

Ein anderer Verteidiger wertet das Urteil als Bestätigung des Rechtssystems und eine Warnung. "Es bedurfte dieses Urteil nicht. Aber die Idee, mit einem Messer auf Polizeibeamten zuzulaufen, ist keine gute Idee", sagt Michael Emde, der vor Gericht den angeklagten Dienstgruppenleiter vertreten hatte. Für den hatte die Staatsanwaltschaft eine zehnmonatige Bewährungsstrafe gefordert.

Der Vorsitzende Richter, Thomas Kelm, hatte kurz zuvor das Urteil in dem beinahe mehr als ein Jahr dauernden Prozess gesprochen und die fünf angeklagten Polizisten freigesprochen. Dabei hatte er sich barsch gegeben und während der Urteilsbegründung ein letztes Mal minutiös die fatalen Geschehnisse in der Dortmunder Nordstadt im August 2022 geschildert.

Damals hatte Dramé im Innenhof einer Jugendeinrichtung gehockt. Er hatte sich in suizidaler Absicht ein Messer an seinen nackten Oberkörper gehalten und jedwede Kontaktversuche ignoriert. Als die Polizei nach einem Notruf die Lage übernommen hatte, war der Einsatz binnen weniger Minuten eskaliert.

Der 16-Jährige, der sich tags zuvor mithilfe der Polizei noch in einer Klinik vorgestellt hatte, lag von Schüssen getroffen auf dem Boden. Wenig später starb er auf dem Weg in die Klinik. Sein Tod sorgte für große Aufmerksamkeit, rund 16 Monate später, am 19. Dezember 2023, begann der Prozess am Dortmunder Landgericht. Ab Januar wohnten mit dem 37-jährigen Sidy und dem 24-jährigen Lassana Dramé auch zwei Brüder des Getöteten dem Prozess bei. Ihr Aufenthalt in Deutschland war durch Spendengelder finanziert worden.

"War eine Katastrophe und ist es immer noch"

"Die Brüder waren sehr mitgenommen von dem Urteil. Beide haben nur geweint und gezittert", erklärte Lisa Grüter, die Anwältin der Nebenklage. Beiden waren bei der detaillierten Beschreibung des Todes ihres Bruders mit jeder Minute mehr in sich zusammengesunken. Sie hatten die Schilderung schon oft gehört, doch immer mit der Hoffnung, dass es am Ende zu einer Verurteilung kommen würde. "Die Familie Dramé ist mit großen Erwartungen an den Rechtsstaat zu diesem Prozess gekommen. Sie sind bitter enttäuscht worden", sagte Grüter. "Das tut weh."

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Gebeugt gibt Sidy Dramé nach dem Urteil Auskunft über seinen Seelenzustand. "Wir haben den Kampf verloren." in Richtung der vor dem Gericht ausharrenden Sympathisanten. Als er sie erreicht, dreht er sich um. Er reckt seinen rechten Arm in die Luft und ballt die Faust. "Justice For Mouhamed" ruft er. "Justice For Mouhamed" rufen die, die nicht das Gefühl haben, dass dem im Alter von 16 Jahren erschossenen Mouhamed Dramé Gerechtigkeit widerfahren ist. "Heute haben sich im Gerichtssaal Gräben aufgetan", sagte Grüter, die die Art des Vorsitzenden Richters kritisiert.

Ganz anders sieht es die Verteidigung. "Das ist in dieser Detailtiefe und im Hinblick auf die rechtlichen Konsequenzen, die Freisprüche, ein völlig richtiges Urteil", sagt Krekeler, der Verteidiger des Todesschützen S. und ergänzte, dass er auch auf das Verständnis jener hoffe, die sonst Polizeiarbeit kritisch hinterfragen. "Die Länge eines solchen Verfahrens ist ungewöhnlich. Jedenfalls im Zusammenhang mit Körperverletzungs- und Tötungsdelikten." Jedes Menschenleben sei ein derartiges Vorgehen wert, "natürlich auch das Menschenleben von Mouhamed Dramé". Es habe Aufklärungsbedarf bestanden: "Schonungslos, sowohl kritisch als auch positiv für alle Beteiligten. Deswegen hat es die Zeit gedauert, die es gedauert hat."

Seinem Mandanten seien Steine von der Schulter gefallen, erklärte Krekeler: "Ich habe sie poltern hören." Und Dramé sei im Sinne einer "vollständigen Aufklärung" Gerechtigkeit widerfahren, erklärte Krekeler, der ebenfalls von der Last des langen Verfahrens für seinen Klienten sprach. "Ich hoffe, dass mein Mandant auf Lebenszeit verbeamtet wird", sagte er zu den Zukunftsperspektiven von S. und dachte noch einmal an den Getöteten. "Wir dürfen nicht vergessen: Der Ausgang des Einsatzes war eine Katastrophe und ist es immer noch."

GdP: Es gab "Anpassungen" im Nachgang

In seiner Urteilsbegründung hatte der Vorsitzende Richter Kelm erklärt, dass von Dramé eine konkrete und gegenwärtige Gefahr für sich selbst ausgegangen sei und der Einsatz daher gerechtfertigt gewesen sei. Das Herbeirufen des SEKs oder der Einsatz eines Hundes sei nicht angemessen gewesen. Auch das Herbeirufen eines Dolmetschers oder eines Psychologen sei aufgrund der unmittelbaren Gefahr für das Leben Dramé nicht möglich gewesen.

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Trotzdem, so erklärt Markus Robert von der Gewerkschaft der Polizei (GdP), im Gespräch mit ntv, habe es im Nachgang der Ereignisse im August 2022 "Anpassungen" innerhalb der Polizei gegeben. "Es sind Vorkehrungen getroffen worden, in solchen Situationen, wenn es erforderlich ist, Dolmetscher hinzuziehen." Der Gewerkschaftler wies auf die lange Prozessdauer hin und sagte: "Es ist deutlich geworden, dass das Handeln der Kollegen nicht leichtfertig erfolgt war."

Robert zeigt sich erschüttert von den Protesten im Gerichtssaal. "Ich bin wütend", sagte er. "Ich erwarte, dass auch jeder, der sich als Bürgerin oder Bürger unserem Rechtssystem unterworfen hat, dann auch ein unabhängiges rechtsstaatliches Urteil akzeptiert." Das aber fiel vielen Leuten an diesem Tag in Dortmund schwer

Quelle: ntv.de

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