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Die Plädoyers im Dramé-Prozess Staatsanwältin: "Die Polizei ist keine Einzelperson"

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Oberstaatsanwalt Dombert und Staatsanwältin Yazir.

Oberstaatsanwalt Dombert und Staatsanwältin Yazir.

(Foto: Stephan Uersfeld)

Das Urteil im Prozess um die tödlichen Schüsse auf Mouhamed Lamine Dramé wird am 12. Dezember erwartet. Nach den abschließenden Plädoyers fließen auf der Anklagebank bei den Schlussworten Tränen. Auch nach dem Prozessende werden viele Fragen offen bleiben. Der Prozess zeigt eine zerklüftete Gesellschaft.

Als an diesem Montag die Staatsanwaltschaft ihr Plädoyer im Prozess um die tödlichen Schüsse auf Mouhamed Lamine Dramé gehalten hatte, standen die Prozessbeteiligten vor dem Dortmunder Landgericht. Auf der einen Seite ins Gespräch vertieft: die Verteidiger. Auf der anderen Seite, umgeben von einigen Personen: die Nebenklage.

Dazwischen eifrig Zigaretten inhalierende, ins Gespräch vertiefte Prozessbeobachter. Einige Meter weiter der Solidaritätskreis Mouhamed Lamine Dramé mit einem Zelt. Bekannte Szenen seit gut einem Jahr. Während sie alle dort auf dem Marktplatz des Prozesses standen, bahnte sich eine Dortmunder Oma, graue Haare und rabiater Schritt, ihren Weg durch die Massen. Sie stoppte. "Was ist denn hier los?", wollte sie wissen. "Geht's immer noch um den Bengel da?" Ja, es ging immer noch um diesen Bengel da.

Die Tränen der Angeklagten

Mit finalen Tränen bei den nun beendeten Plädoyers steht der Prozess um die tödlichen Schüsse auf den 16-jährigen Mouhamed Dramé somit vor dem Abschluss. Das Urteil wird am 12. Dezember 2024 am Dortmunder Landgericht gesprochen. Während die Staatsanwaltschaft vier Freisprüche und eine Bewährungsstrafe fordert, die Verteidigung gleich fünfmal auf Freispruch plädiert, fordert die Nebenklage Auswirkungen auf das noch anstehende berufliche Leben eines der Angeklagten.

Bei den Schlussworten der fünf Angeklagten schwiegen gleich vier. Sie schlossen sich ihrer Verteidigung an. Einer von ihnen, der Polizist B., der mit einem Taser auf Dramé gezielt hatte, sagte, er wolle schon etwas sagen, schweige aber besser. Es klang wie eine Drohung. Aus einer Angeklagten aber brach es noch einmal heraus. "Am Ende bleibt die Tatsache, dass Mouhamed Dramé nicht mehr am Leben ist. Das hat keiner von uns gewollt", sagte sie und stockte.

Alle, die Angeklagten und die Angehörigen des Getöteten, müssten nun ein Leben lang damit klarkommen. "Das tut mir unfassbar leid", sagte sie, die Tränen wegwischend. Dann schloss sie mit den letzten Worten vor der Urteilsverkündung. Es waren große Worte: "Ich möchte mich von den Rassismusvorwürfen distanzieren."

"Was ist Gerechtigkeit?"

Die Plädoyers von Nebenklage und Verteidigung hatten diese gegen die Polizei gerichteten Vorwürfe noch einmal hochgespült. Sie hatten im Vorfeld des Prozesses eine große Rolle gespielt, waren jedoch während der nun 30 Prozesstage immer weiter in den Hintergrund gerückt. Doch auf sie wird auch hier noch einzugehen sein.

Über allem steht in diesen letzten Prozesstagen in Dortmund die große Frage: Was ist Gerechtigkeit? Und wie wird diese nach dem Tod eines Menschen hergestellt? Nach dem bald ein Jahr andauernden Prozess in Dortmund stellt sich die Lage so dar: Der mit gleich fünf Schüssen aus einer Maschinenpistole eines Polizisten getötete Dramé war Opfer einer Verkettung unglücklichster Umstände, die am Tag vor seinem Tod mit einem Besuch in einer Klinik ihren Ursprung nahmen und kaum hatten gestoppt werden können.

"Eine Tragödie", formulierte es an diesem Mittwoch einer der Verteidiger. Darüber seien sich alle einig. Über mehr aber nicht. Wichtige Fragen bleiben vorerst ungeklärt. Zentral dabei: War diese Tragödie unvermeidlich? Und wenn nicht, wer hatte diese Tragödie herbeigeführt und wer hätte sie stoppen können? Darüber herrscht nach dem Ende der Hauptverhandlung keine Einigkeit. Auch das Urteil am Donnerstag in einer Woche dürfte kaum Versöhnung versprechen. Zu feindselig stehen sich die Lager gegenüber. Nicht unbedingt im Gerichtssaal, doch sicher außerhalb.

Was im August 2022 in Dortmund passiert war

Was war überhaupt passiert? Am 8. August 2022 hatte der gerade erst nach Dortmund gekommene Mouhamed Lamine Dramé an einer Kirchenwand in einer Jugendhilfeeinrichtung in der Dortmunder Nordstadt gehockt. Der aus dem Senegal geflüchtete unbegleitete Minderjährige hatte dabei ein Messer gegen sich gerichtet. Weil er tags zuvor bereits aufgrund suizidaler Tendenzen in einer Jugendklinik behandelt worden war, setzten Mitarbeiter der Einrichtung einen Notruf ab.

Wenige Minuten später standen gleich zwölf Polizisten um ihn herum. Auch sie konnten Dramé das Messer nicht abnehmen und weil das nicht gelang, lösten sie ohne Not die statische Lage auf. Wenig später lag der 16-Jährige tödlich getroffen auf der Erde. Er hatte sich, nachdem sich Pfefferspray über ihn ergossen hatte, aus seiner Notlage befreien wollen. Es gab nur eine Fluchtmöglichkeit. Die führte ihn in seinen Tod. Erst trafen ihn die Fäden aus zwei Tasern, weniger als eine Sekunde später fünf Polizeikugeln.

Die Schüsse waren das Ende eines womöglich fehlerhaften Plans. Angeklagt sind: ein Dienstgruppenleiter und je zwei Polizisten und zwei Polizistinnen. Dienstgruppenleiter H. habe die Planung für den tödlichen Dreiklang aus Pfefferspray, Taser und Maschinenpistole ohne genaue Kenntnis des Einsatzortes getroffen, hielt ihm die Staatsanwaltschaft vor. Die vier Polizisten hätten diesen ausgeführt. Der Dienstgruppenleiter könnte nun eine Bewährungsstrafe erhalten, den restlichen Polizisten winkt der Freispruch.

Was Innenminister Reul sagte

Der Todesfall Dramé hatte für große Aufregung gesorgt. Nur wenige Minuten nach dem Tod hatte der offizielle Twitter-Kanal der Polizei Dortmund davon berichtet. Dort war von einem Angriff auf die Polizei die Rede. Der habe zu den Schüssen und somit zum Tod geführt. Davon ausgehend hatte sich eine von den üblichen Empörungsunternehmern ausgehende Debatte entsponnen.

Die Debatte hatte nicht nur Auswirkungen auf die Polizeiarbeit, sondern sie hatte auch bis in die Politik nachgehallt. Tage nach dem Tode Dramés hatte NRW-Innenminister Herbert Reul nachgelegt und öffentlich und laut eine Notwehrlage für die Polizei reklamiert. Im Laufe der Hauptverhandlung waren Staatsanwaltschaft und Nebenklage zu einem anderen Schluss gekommen.

Es habe kein Angriff vorgelegen und somit auch keine Notwehrsituation, hatte die Staatsanwaltschaft erklärt. Allenfalls habe ein sogenannter Erlaubnistatbestandsirrtum vorgelegen. An Wörter wie Erlaubnistatbestandsirrtum war 2022 noch nicht zu denken gewesen. Mit dem Tod Dramés passierte etwas, was häufig passiert: Das Ereignis wurde Teil einer Erregungsschlacht.

Die Schüsse waren schon bald nach ihrem Bekanntwerden von rechtsoffenen Kräften mit der 2018er Bundestagsrede Alice Weidels von "Kopftuchmädchen und alimentierten Messermännern und sonstigen Taugenichtsen" in Verbindung gebracht worden. Der Polizei sei überhaupt keine andere Möglichkeit geblieben, als Dramé zu töten, hieße es von jener Seite. Die andere, die linke Seite hatte auf Polizeigewalt, auf strukturellen Rassismus verwiesen.

Staatsanwaltschaft sucht Ausgleich in Gesetzestexten

"Die Anklage war alternativlos. Sie ist aber definitiv nicht der Druck der Straße", hatte Oberstaatsanwalt Carsten Dombert am Montag gesagt. Er sei nicht angewiesen worden, Anklage zu erheben. Nicht von der Staatsanwaltschaft Dortmund, nicht von der Generalstaatsanwaltschaft in Hamm und nicht vom Justizministerium. Dombert sang ein Hohelied auf die Justiz und seine Arbeit. Wie sich noch herausstellen sollte, hatte er in den Gesetzestexten in der Tat einen Ausgleich zwischen unversöhnlichen Positionen gesucht.

Obwohl alle Lager versucht hätten, den Tod Dramés und auch den Prozess zu instrumentalisieren, sei auch dies nicht gelungen. Der Rassismus habe sich auch nach Auswertung der Chatverläufe der Angeklagten nicht bestätigt. Es sei auch kein Messermann aus einem fremden Land in mörderischer Absicht auf die Polizisten zugestürmt, wie das rechte Lager schnell behauptet hatte.

In der Zivilgesellschaft habe der Fall hohe Wellen geschlagen, hatte Dombert in seinen ausufernden Ausführungen ergänzt. Vieles, was die Demonstranten vor dem Dortmunder Landgericht gefordert hätten, könne er nicht unterschreiben. So sei die Forderung nach einer Welt ohne Polizei schlichtweg "naiv".

Ein Schild aber habe ihn immer wieder berührt. Das mit der Aufschrift: "Justice For Mouhamed". Gerechtigkeit: Darum gehe es der Staatsanwaltschaft. Die ethische Definition von Gerechtigkeit leite sich nicht aus Rache, sondern aus dem Wort Recht ab, hatte Dombert gesagt und war dann zum Kern seines Plädoyers gelangt.

"Die Polizei ist keine Einzelperson"

"Alle Menschen sollen gleich behandelt werden", hatte Dombert gesagt und darauf hingewiesen, dass, weil Menschen unterschiedlich sind und andere "politische, religiöse, moralische" Vorstellungen haben, sie auch eine andere Definition von Gerechtigkeit haben. Daher werde das, was die Staatsanwaltschaft nun fordern werde, gewiss nicht jede Seite befriedigen können.

"Unsere Aufgabe besteht darin, dem geltenden Recht hier Geltung zu verschaffen." Und da, hatte Dombert später gesagt, gehe es eben nicht darum, über eine Gruppe zu entscheiden, sondern über das Verhalten jedes Einzelnen. Dem Individuum müsse eine Schuld nachgewiesen werden.

Staatsanwältin Gülkiz Yazir hatte die Position Momente später präzise auf den Punkt gebracht: Rechtlich sei nicht die Strafbarkeit der Institution Polizei zu bewerten, denn "die Polizei ist keine Einzelperson". Und den Beamten sei bei diesem Fall in gleich vier Fällen eben "keine Schuld" nachzuweisen.

Der fehlerhafte Plan des Dienstgruppenleiters H.

Nur für den Dienstgruppenleiter H. hatte die Staatsanwaltschaft eine schuldhafte Verfehlung erkannt. Er sei schuldig der Verleitung zur gefährlichen Körperverletzung im Amt und schuldig der fahrlässigen Tötung. Für ihn fordert die Staatsanwaltschaft eine Haftstrafe von zehn Monaten auf Bewährung und als Auflage eine Zahlung von 5000 Euro an eine gemeinnützige Organisation in Dortmund. Somit würde H. seinen Beamtenstatus und seine Pensionsansprüche nicht verlieren.

Auf einen Laien wirkt dieser Erlaubnistatbestandsirrtum psychedelisch. Etwas passiert im Kopf, was in der realen Welt da draußen überhaupt nicht passiert. Und auf das, was im Kopf passiert, wird reagiert. Weil das, was in diesem Moment im Kopf passiert, ja der einzig möglichen Wahrheit entspricht. Diese einzig mögliche Wahrheit in den Köpfen der noch angeklagten drei, bald womöglich freigesprochenen Polizisten stand am Ende einer von dem Dienstgruppenleiter ausgelösten Befehlskette.

Der Angeklagte H. war "stumpf" einem fehlerhaften Plan gefolgt, hatte Staatsanwalt Dombert in seinem Plädoyer erklärt. Er habe keine Anstalten gemacht, diesen in irgendeiner Form zu korrigieren. Das hatte erst zu dem Einsatz von Pfefferspray geführt, und dann zur tödlichen Flucht Dramés hinein in die Taser und Schüsse. Es sei ein gefühlter Angriff gewesen, der durch die räumlichen Gegebenheiten an der Kirchenmauer nahe der Dortmunder Missundestraße, nur durch die tödlichen Schüsse abzuwehren gewesen sei. Die Verteidigung sah dies nun naturgemäß anders.

Der Rassismusvorwurf

Andere Fragen als die, ob Dramé auch sterben musste, weil er nicht die Hautfarbe der deutschen Mehrheitsgesellschaft hatte, waren also im vergangenen Jahr am Dortmunder Landgericht diskutiert, der Tod des Dramé minutiös aufgearbeitet worden. Unter diesem Mikroskop der minutiösen Aufarbeitung hatte sich kein offener Rassismus gezeigt.

Doch die Wut über die Rassismusvorwürfe war geblieben. So etwas gebe es schlichtweg nicht in diesem Fall, erklärten die Verteidiger unisono. Sie kritisierten die mediale Berichterstattung und die Vorverurteilungen ihrer Mandanten vor Prozessbeginn und auch während des Prozesses. Eine klare Schelte für die anwesende Presse. Auf der anderen Seite hoben die Verteidiger die Recherchen jener Medien hervor, die ihrer Argumentation zuträglich waren. Immer wieder spielten sie auf das Alter des Getöteten an, der, so hatte "Spiegel TV" berichtet, möglicherweise nicht 16, sondern bereits volljährig gewesen war.

"Die haben ihn niedergeschossen. Das ist doch schlimm"

Dann wurden für die Verteidigung aus Mutmaßungen Fakten, dann schwangen Klischees über Geflüchtete mit. Dann wurde auch dem Getöteten durch Täuschung eine "illegale Einreise" unterstellt. Damit habe er seinen eigenen Tod ausgelöst, hieß es im Subtext. Auch andere Faktoren hätten den Tod ausgelöst, hieß es immer wieder. Aber nicht die Polizei, die am Ende einer langen Kette gestanden habe.

Von einem erdachten Angriff, einem Erlaubnistatbestandsirrtum also, wollte auf Verteidigerseite ebenfalls niemand etwas wissen. Dramé, das habe der Prozess gezeigt, sei eben auch mit Angriffsabsicht auf die Polizisten zugelaufen. Dadurch sei eine Notwehrsituation entstanden, hieß es immer wieder während der Plädoyers der Verteidigung.

Bevor die Oma ihren Weg vorbei am Dortmunder Landgericht weiterging, schüttelte sie mit dem Kopf. Es ging immer noch um den Bengel, und sie war zutiefst schockiert. "Das ist doch schlimm. Der ist hin- und hergeschoben worden. Dann haben sie ihn erschossen." Damit hatte sie den letzten gemeinsamen Nenner formuliert.

Quelle: ntv.de

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