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"Fehler werden vorher gemacht" Warum mehr Menschen durch Polizeischüsse sterben

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Die Polizei tendiere dazu, Probleme möglichst schnell lösen zu wollen, so Experte Feltes.

Die Polizei tendiere dazu, Probleme möglichst schnell lösen zu wollen, so Experte Feltes.

(Foto: picture alliance/dpa)

Die deutsche Polizei hat 2024 so viele Menschen erschossen wie seit mehr als 40 Jahren nicht. Das liegt einem Experten zufolge an Defiziten im Umgang mit Ausnahmesituationen - und nicht an einer generell gewalttätigeren Gesellschaft. Ein Vorbild seien ausgerechnet die USA.

Christine H. war psychisch krank. Dreimal hatte die Polizei sie schon wegen Eigen- und Fremdgefährdung in die Psychiatrie eingewiesen. Gegen die Frau lagen mehrere Anzeigen wegen Körperverletzung vor. Am 19. August streitet H. sich mit Angehörigen am Münchner Goetheplatz, wird handgreiflich. Die hinzugerufene Polizei begegnet der Frau in einem Penny-Markt. Was dann passiert, wird ein Polizeisprecher später als einen "sehr dynamischen Ablauf" bezeichnen. Die 31-Jährige habe ein Küchenmesser gezückt, sich auf die Einsatzkräfte zubewegt und deren Aufforderungen ignoriert. Zunächst hätten die Beamten Pfefferspray eingesetzt, dann insgesamt vier Schüsse abgegeben. Die Frau stirbt.

Nach einer Auswertung von Polizeiberichten durch die Deutsche Presse-Agentur starben 2024 bundesweit 22 Menschen bei Schusswaffengebrauch durch die Polizei. Die Zahl ist mehr als doppelt so hoch wie im vergangenen Jahr (10 Fälle) und markiert einen Höchststand der letzten 41 Jahre. 1983 waren es 21 Tote. Im Vergleich zu den USA, wo jedes Jahr Hunderte Personen durch die Polizei erschossen werden, ist das immer noch ein geringer Wert.

Außerdem gebe es immer mal wieder statistische Streuungen, sagt der Jurist und Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes im Gespräch mit ntv.de. "Wir haben allerdings auch einen Anstieg von Situationen, in denen die Polizei es mit Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen zu tun hat." Das hänge auch mit der Zunahme von psychischen Erkrankungen in der Gesellschaft zusammen.

"Die Ausnahmen häufen sich"

In der Tat sind Fälle wie der des 18-jährigen Österreichers in München, der Anfang September auf das israelische Generalkonsulat und das NS-Dokumentationszentrum geschossen hatte, nicht die Regel. Die tödlichen Polizeischüsse trafen mehrheitlich Menschen, die sich in psychischen Extremlagen befanden oder wegen psychischer Erkrankungen in Behandlung waren. "Die Polizei ist tagtäglich mit solchen Menschen konfrontiert. Meistens gelingt der Umgang gut, doch die Ausnahmen häufen sich", sagt Feltes.

Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) erklärt den Anstieg tödlicher Polizeischüsse auch mit einer Zunahme von Gewaltkriminalität in der Gesellschaft. "Kriminologen wissen, dass diese Entwicklung sich auch negativ auf gewaltsame Angriffe auf polizeiliche Einsatzkräfte auswirkt", teilt der GdP-Bundesvorsitzende Jochen Kopelke ntv.de auf Anfrage mit. Zwar sei es Aufgabe von Polizistinnen und Polizisten, gewaltsame Angriffe mit dem möglichst mildesten Mittel zu unterbinden. "Wenn der Angreifer jedoch bewaffnet ist und sich womöglich mit hoher Dynamik auf die Einsatzkräfte oder Unbeteiligte zubewegt, kann es zu tödlichen Treffern kommen."

Polizeiforscher Feltes geht indes nicht davon aus, dass tödliche Polizeischüsse mit einer generellen Zunahme von Gewalt zusammenhängen. "Das sind in den meisten Fällen ja keine Gewalttäter, sondern Menschen in Ausnahmesituationen." In der Polizeiforschung gibt es laut dem Experten zwei Faktoren, die relevant im Umgang mit solchen Einsatzlagen sind: Distanz und Zeit. "Distanz meint, dass ich Abstand zu den Personen halten muss, weil sie sich sonst angegriffen fühlen könnten. Zeit heißt, dass ich mit den Personen kommunizieren oder Fachleute wie Psychologen hinzuziehen muss", erklärt Feltes. "Die Polizei tendiert allerdings dazu, Probleme möglichst schnell lösen zu wollen. Das ist in solchen Fällen aber kontraproduktiv, weil so die Lage eskaliert."

Kritik an Tasern

Zur Gefahr werde dann auch der Einsatz von Pfefferspray und Tasern, sagt der Polizeiforscher. Damit widerspricht er dem Polizeibeauftragten des Bundes, Uli Grötsch, der als Reaktion auf tödliche Polizeischüsse eine flächendeckende Ausstattung mit den Elektroschockern gefordert hatte. "In psychischen Ausnahmesituationen bewegen sich die Menschen häufig unkoordiniert und sind mit einem Taser schwierig zu treffen", so Feltes. Wenn der Stromstoß den Betroffenen nicht sofort außer Gefecht setze, werde das genaue Gegenteil erreicht: "Die Person fühlt sich noch mehr angegriffen. Das kann unter Umständen erst den Schusswaffengebrauch auslösen", sagt Feltes.

In einem Fall im April hatte sich der Teaser zumindest als unwirksam erwiesen. Ein Obdachloser randalierte in Dortmund mit einer Eisenstange. Er traktierte einen anderen Obdachlosen und schlug gegen die Tür einer Kirche. Die Beamtinnen und Beamten setzten mehrfach einen Taser ein, dieser habe jedoch "kaum Wirkung" gezeigt, wie es nach der Sichtung von Bodycam-Aufzeichnungen hieß. Daraufhin habe sich der 52-Jährige mit erhobener Eisenstange auf die Polizeibeamten zubewegt. Ein Polizist habe schließlich einen tödlichen Schuss abgegeben. Die Staatsanwaltschaft sah später keine andere Möglichkeit als den Schusswaffengebrauch und sprach den Schützen frei.

Beamten "bleibt oftmals keine andere Möglichkeit"

"Die Fehler werden vorher gemacht: bei der Einsatzplanung und der unmittelbaren Abstimmung vor Ort", sagt Feltes. "Das führt zu Situationen, die eskalieren und in denen der Polizei dann oftmals keine andere Möglichkeit bleibt, als von der Schusswaffe Gebrauch zu machen."

Zwar sei es vor einem Einsatz oft nicht absehbar, ob auf die Polizei eine psychische Ausnahmesituation zukommt. "Wenn es darauf aber Hinweise gibt, könnten der sozialpsychiatrische Notdienst oder Rettungssanitäter hinzugezogen werden." Deren Anwesenheit würde deeskalierend wirken. In Großstädten hält Feltes das für umsetzbar. Ein Vorbild seien ausgerechnet die USA. "Dort gibt es inzwischen eine eigene Notrufnummer für solche Situationen. Dann fahren entweder gemischte Teams von Polizei und Psychologen oder eben nur Psychologen zu diesem Einsatz und händeln das anders."

Auch Polizeigewerkschafter Kopelke wünscht sich bessere Absprachen im Vorfeld. Zwar sei die Polizei grundsätzlich gut auf eskalierende Lagen vorbereitet, "vor Ort im Einsatz, unter dem schweren Druck der Situation, würde es jedoch sehr helfen, lägen den Beamten Information und Auskünfte vor, die ihnen verdeutlichen, dass sie es mit einem Gegenüber zu tun haben, bei dem psychische Störungen oder eine psychische Erkrankung bekannt ist", sagt er. "Das lässt sich nur erreichen, wenn eine funktionierende Vernetzung zwischen allen beteiligten Behörden besteht und auch rasch nutzbar ist."

Dass es Defizite im Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen gibt, hätten Feltes zufolge Polizeischulen inzwischen erkannt und ihre Ausbildungen entsprechend angepasst. "Aber das hat kaum Auswirkungen auf die Praxis, wo Beamte tätig sind, die ihre Ausbildung vor Jahren oder Jahrzehnten abgeschlossen haben", sagt der Experte. Er sieht jedoch Anzeichen, dass der Einfluss von jungen Mitarbeitenden bei der Polizei zunimmt - und allmählich ein Umdenken stattfindet.

Quelle: ntv.de

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