Getarnt durchs Leben gehen Warum in Deutschland immer mehr Menschen die Autismus-Diagnose bekommen
04.10.2025, 12:27 Uhr Artikel anhören
Diagnosen steigen: Waren 2013 nur 0,4 Prozent betroffen, sind es 2022 bereits 0,8 Prozent. Heute leben rund 800.000 Autisten in Deutschland.
(Foto: iStockphoto/mmpile)
Die Zahl der Autismus-Diagnosen steigt. Die Psychologin Kathrin Hippler erklärt, warum wir Autismus neu verstehen müssen, wieso Mädchen oft übersehen werden und warum die Debatte um Paracetamol gefährlich ist.
Die Verzweiflung von Eltern nach einer Autismus-Diagnose ihres Kindes kennt Kathrin Hippler nur zu gut. "Ganz oft wird die Frage gestellt: 'Ja, die Diagnose ist schön und gut - aber was tun wir jetzt?'", erklärt die Wiener Psychologin ntv.de zu ihrem letzten Buch "Meine Entdeckungsreise durch das Autismus-Spektrum". Es richtet sich direkt an autistische Kinder, Jugendliche und Erwachsene sowie deren Angehörige - als Psychoedukation. Das Ziel: ein Verständnis für sich selbst entwickeln.
Laut einer Analyse der hkk Krankenkasse hat sich die Zahl der von Autismus betroffenen Menschen in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt - von 0,4 Prozent im Jahr 2013 auf 0,8 Prozent im Jahr 2022. Inzwischen gehen Experten von rund 800.000 Autistinnen und Autisten in Deutschland aus. Die Prävalenz wird heute auf etwa ein Prozent der Bevölkerung geschätzt, wobei viele Studien auch eine hohe Dunkelziffer vermuten.
"Aus wissenschaftlicher Sicht hat das vor allem zwei Gründe", erläutert Hippler. "Erstens betrachten wir Autismus und ADHS heute als Spektrum. Das bedeutet, es gibt nicht 'den Autismus' oder 'das ADHS', sondern ein Spektrum." Ein zweiter Grund sei, dass mittlerweile bei Mädchen und Frauen, beim sogenannten "weiblichen Phänotyp", die Symptome besser erkannt würden. "Außerdem erkennen wir zunehmend kognitiv gut begabte Personen mit Autismus oder ADHS, die es schaffen, ihre Symptome lange zu kompensieren oder zu kaschieren." Ein Verhalten, das als Maskieren bezeichnet wird.
Mädchen maskieren - mit fatalen Folgen
Dieses Maskieren beschreibt die klinische Psychologin anhand des eindrücklichen Beispiels eines Mädchens, dass Schwierigkeiten hat, Freunde zu finden: "Sie sagte mir: 'Ich habe einfach geschaut, wer das beliebteste Mädchen in der Klasse ist. Marie ist die Beliebteste. Dann habe ich beobachtet, was Marie macht: Glitzerhaarspangen tragen, sich für Pferde interessieren - und das habe ich dann auch gemacht, obwohl Pferde gar nicht mein Thema sind.'"
Dieses Copy-Paste-Verhalten führe häufig im Jugendalter zu Erschöpfung, zu depressiven Phasen oder zu dem, was man autistisches Burn-out nenne. "Das wird oft als ich-fremd erlebt", erklärt Hippler die psychische Belastung. "Maskieren kann kurzfristig hilfreich sein, langfristig aber auch sehr belastend", warnt die Expertin.
Neurodiversität statt Pathologisierung
Gerade solche Erfahrungen zeigen, warum ein Paradigmenwechsel nötig ist. Der Begriff Neurodiversität beschreibt deswegen die Vielfalt menschlicher Gehirnentwicklung. "Man unterscheidet dabei neurotypische Personen, deren Gehirnentwicklung dem Durchschnitt entspricht, und neurodivergente Personen, deren Informationsverarbeitung abweicht - etwa Autisten, Menschen mit ADHS, Entwicklungsverzögerungen oder auch Hochbegabte", erklärt die Expertin.
Wichtig sei die Differenzierung: "Eine Neurodivergenz gehört zum Selbstverständnis einer Person, während eine Depression oder Angststörung in der Regel als Abweichung vom eigenen Normalzustand erlebt wird."
Multifaktoriell und genetisch bedingt
Während die Wissenschaft diese komplexen Zusammenhänge erforscht, sorgte kürzlich US-Präsident Donald Trump für einen Aufschrei unter vielen Forschern, als er vor Tylenol, hierzulande als Paracetamol bekannt, in der Schwangerschaft warnte. "Das ist nicht gut", behauptete Trump, unterstützt von Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr., der das Schmerzmittel für eine "Autismus-Epidemie" mitverantwortlich macht.
Der Widerspruch war energisch: Die Europäische Arzneimittelagentur und das deutsche Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte sehen keinen Handlungsbedarf und stufen Paracetamol weiterhin als sicherstes rezeptfreies Schmerzmittel in der Schwangerschaft ein. Hippler bestätigt: "Wir wissen seit Langem, dass Autismus und ADHS multifaktoriell und genetisch bedingt sind. Solche einfachen Erklärungen funktionieren nicht."
Das Aye-aye als Identifikationsfigur
Als Metapher für autistisches Erleben verwendet Hippler in dem Buch das Aye-aye, einen nachtaktiven Lemuren aus Madagaskar. Denn das Aye-aye hat spezielle Fähigkeiten: einen zusätzlichen Finger zum Insektenfangen, empfindsame Augen, eine eigene Art der Kommunikation.
"Es wirkt für andere Tiere ungewöhnlich, doch wenn man es versteht, erkennt man seine besonderen Stärken." Genauso sei es mit autistischen Menschen: "Es geht nicht um Defizite, sondern um gegenseitige Neugierde, um Verstehen, um Akzeptanz. Es geht auch darum, die Ausdrucksweise der einen Wahrnehmungsweise in die andere zu 'übersetzen'."
Das Problem der doppelten Empathie
Ihr Rat an neurotypische Menschen ist simpel: "Neugierig sein, offen sein. Nachfragen ist immer gut und Humor hilft." Denn oft entstehen Missverständnisse durch das, was Experten "doppelte Empathie" nennen. "Beide Seiten - autistisch und neurotypisch - verstehen einander nur unvollständig", erklärt Hippler. "Manchmal fühlen sich autistische Menschen nicht ernst genommen, weil sie ihre Gefühle sprachlich ausdrücken, aber ohne die nonverbalen Signale, die für Neurotypische entscheidend sind."
Wie ihr 16-jähriger Patient Robert es ausdrückt: "Was wäre, wenn die Mehrheit der Menschen autistisch wäre? Dann müssten die Neurotypischen in Therapie gehen, um sich ihr komisches soziales Verhalten abzugewöhnen."
Quelle: ntv.de