Panorama

Interview mit Mediziner Janssens "Wir gehen in einen unruhigen Herbst"

Intensivmediziner Janssens hält die Corona-Lage für angespannt und warnt vor voreiligen Lockerungen.

Intensivmediziner Janssens hält die Corona-Lage für angespannt und warnt vor voreiligen Lockerungen.

Bundesgesundheitsminister Spahn regt das Ende der epidemischen Lage von nationaler Tragweite an. Intensivmediziner Janssens spricht von einem "Freedom-Day" durch die Hintertür und warnt eindringlich. Die Fallzahlen steigen und die Impfquote sei zu gering. Wichtiger noch ist aber: Deutschland verfügt über weniger Intensivbetten als zuletzt.

ntv: Herr Professor Janssens, wie sehr beunruhigt Sie die aktuelle Entwicklung? Immerhin ist die Inzidenz binnen weniger Tage stark angestiegen und liegt aktuell bei 110.

Uwe Janssens: Wir schauen ja auf eine Allgemeininzidenz. Schauen Sie doch mal in die Karten rein, nach Süddeutschland, nach Baden-Württemberg oder nach Bayern. Im Süden und Osten von Bayern liegen die Sieben-Tages-Inzidenzwerte bei mehr als 400. Es ist schon bedenklich - und das betonen wir sehr genau -, dass man zum jetzigen Zeitpunkt und angesichts dieser Unsicherheiten, die wir haben, tatsächlich Lockerungen anvisiert, die zum jetzigen Zeitpunkt vielleicht noch etwas verfrüht sind. Der Kollege Stürmer (Virologe Martin Stürmer, d. Red.) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es angesichts der Durchbruchsinfektionen, die wir zunehmend beobachten, doch sehr heikel ist, wenn jetzt Masken abgeschafft würden und 2G führend sein soll. Insgesamt gehen wir in einen unruhigen Herbst. Das zeigen die Zahlen und wenn ich ins Ausland blicke. Großbritannien hat schon lange Inzidenzwerte von über 400. Und irgendwann mal wird - trotz der guten Situation, was die Impfungen betrifft -, auch der Anteil der Patienten in den Krankenhäusern steigen. Das sagen wir voraus. Und dann kann es durchaus eng werden. Denn wir haben tatsächlich zum jetzigen Zeitpunkt deutschlandweit in einigen Bereichen zum Teil nur noch unter zehn Prozent freie Intensivbetten - und das ist zu wenig.

Gesundheitsminister Jens Spahn plädiert trotz großer Kritik dafür, die epidemische Lage bald zu beenden. Sehen Sie es möglicherweise so wie er, dass dafür, wenn vier von fünf Erwachsenen geimpft sind, jetzt der richtige Zeitpunkt ist?

Ich finde das relativ plakativ. Vier von fünf stimmt übrigens nicht, wenn man den Rechenschieber mal anlegt, aber das sei mal dahingestellt. Wir haben bei den über 60-Jährigen noch über drei Millionen Ungeimpfte. Und bei den 18- bis 59-Jährigen ist es auch eine beträchtliche Anzahl. Knapp 14 Millionen Menschen sind noch ungeimpft. Dann kommen wir zwar insgesamt auf 23 Prozent, aber wir vergessen eins: Die Impfungen sind nicht zu 100 Prozent wirksam. Das wissen wir aus den großen Studien. Allein fünf bis zehn Prozent haben keinen Schutz. Das erklärt auch die zunehmende Zahl an Durchbruchsinfektionen. Und das Zweite ist: Bei den Jüngeren machen sich die Durchbruchsinfektionen gar nicht so klinisch bemerkbar. Das heißt, sie sind potenzielle Überträger. Das haben wir in Berliner Diskotheken gesehen, wo man ohne Mund-Nasen-Schutz gefeiert hat und es dann lokale Ausbrüche gab. Meine größte Sorge ist, dass der Schutz bei den Alten nachlässt und dann Durchbruchsinfektionen auftreten oder über andere, die bisher nicht erkannt worden sind, die Infektionen in diese vulnerablen Populationen reingetragen werden und es dann zu einem Anstieg der schweren Behandlungsverläufe kommt.

Werfen wir noch einen Blick auf die Intensivstationen. Sie haben es kurz angedeutet. Wie ist dort aktuell die Lage?

Insgesamt höre ich immer wieder, die Intensivmediziner sollten nicht so viel Alarm schlagen. Das tun wir nicht! Wir weisen einfach nur darauf hin, dass wir nicht nur Covid-19 haben, sondern viele andere Krankheitsfälle. Übrigens auch im Kinderbereich. Sehr viele Atemwegsinfektionen mit dem RSV-Virus, der auch deutlich zugenommen hat. Wir werden die Influenza bekommen. Wir wissen noch nicht, was das für einen Einfluss hat, und ich sage Ihnen ganz ehrlich, wir haben in den letzten Monaten Personal verloren! Wir haben dadurch Intensivbetten schließen müssen. Die können wir nicht betreiben. Das haben wir vor Kurzem in einer Umfrage zeigen können. Und diese Gemengelage - gesperrte Intensivbetten, zu wenig Pflegepersonal, steigende Infektionszahlen - ist so unsicher, dass ich es kritisch finde zum jetzigen Zeitpunkt, dieses Ende der pandemischen Lage zu verkündigen. Es sei denn, man hat ein gültiges, vernünftiges Gesamtkonzept, was mit den Bundesländern abgestimmt ist, was die Ministerpräsidentenkonferenz vergangenen Freitag auch gefordert haben. Das würde ich mir jetzt wünschen und nicht, einen Freedom-Day durch die Hintertür auszuloben.

Mit Uwe Janssens sprach Verena Fels

Quelle: ntv.de

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