"Historisches Ergebnis" Warum die Kleinstpartei SSW mit 0,2 Prozent in den Bundestag einzieht
24.02.2025, 12:28 Uhr Artikel anhören
Christian Dirschauer (links), Landesvorsitzender des SSW, und Stefan Seidler, fraktionsloser Bundestagsabgeordneter des SSW.
(Foto: dpa)
Über ein "historisches Ergebnis" bei der Bundestagswahl freut sich der Südschleswigsche Wählerverband, dabei holt die Partei bundesweit nur 0,2 Prozent der Stimmen. Und stellt trotzdem einen Abgeordneten im Bundestag. Das hat mit einer besonderen Regelung zu tun.
Auf den ersten Blick mutet es paradox an: Der Südschleswigsche Wählerverband (SSW) holt bei der Bundestagswahl deutschlandweit 0,2 Prozent der Stimmen und bejubelt trotzdem den Einzug seines Spitzenkandidaten in den Bundestag. Dabei reichen auch die 3,1 Prozent, die Stefan Seidler bei der Erststimme sammelt, bei weitem nicht für ein Direktmandat im neuen Parlament. Und doch weist das vorläufige offizielle Endergebnis der Bundeswahlleiterin ein Mandat für den SSW aus. Ein "historisches Ergebnis", wie die Partei selbst in den Stunden nach der Abstimmung stolz verkündet.
Das hat mit einer Sonderregelung im Bundeswahlgesetz zu tun, der zufolge der SSW als Partei der anerkannten nationalen Minderheiten der Dänen und Friesen von der ansonsten geltenden Fünf-Prozent-Hürde ausgenommen ist. Die Sonderregeln des Bundeswahlgesetzes dienen dem Minderheitenschutz und sollen die Chancen von Minderheiten auf politische Repräsentation erhöhen.
Die für sie abgegebenen Zweitstimmen werden bei der Mandatszuteilung auch bei einem Gesamtstimmenanteil unterhalb der Sperrklauselgrenze berücksichtigt. Reicht deren Anzahl rechnerisch zum Erwerb eines oder mehrerer Sitze im Bundestag, kommt die Partei zum Zug. Der SSW war im Vorfeld davon ausgegangen, dass 40.000 Stimmen notwendig sind.
"Die Menschen im Norden würdigen Stefan Seidlers Arbeit"
Mit 76.126 Zweitstimmen wurde diese Marke deutlich übertroffen, in Schleswig-Holstein bedeutet dies außerdem 4,0 Prozent der abgegebenen Stimmen. 2021 war die Partei im nördlichen Bundesland der Republik auf 55.578 und 3,1 Prozent der Zweitstimmen gekommen. Laut Mandatsberechnung auf Basis des vorläufigen Wahlergebnisses darf der Südschleswigsche Wählerverband daher seinen Spitzenkandidaten Stefan Seidler erneut in den Bundestag entsenden, der dort bereits seit 2021 sitzt. "Wir werden uns also weiterhin mit einem starken Mandat für unseren Norden in Berlin starkmachen - unabhängig und nordisch klar", teilte das SSW bei Facebook mit.
Das SSW hatte zuvor sogar als Ziel ausgegeben, eine weitere Abgeordnete nach Berlin zu schicken, verfehlte dieses Ziel jedoch. Nach früheren Angaben der Partei wären dafür in etwa 110.000 Zweistimmen nötig gewesen. Damit bleibt Seidler alleiniger Abgeordneter in Berlin, für die zweite Kandidatin Maylis Roßberg reichte es nicht. "Nach derzeitigem Stand haben wir unser Wahlziel erreicht, den SSW im Bundestag zu halten", hatte der SSW-Landesvorsitzende Christian Dirschauer bereits am Wahlabend gesagt. "Es zeigt, dass die Menschen im Norden Stefan Seidlers Arbeit im Bundestag durchaus würdigen."
Seidler hatte im Vorfeld der Wahl zu seiner Arbeit gesagt: "Es gibt immer Leute, die sagen: Eine Stimme im Bundestag, was soll das denn bringen? Aber es bedeutet die Freiheit, sich ohne Fraktion auf die Themen und die Menschen in der Region zu konzentrieren."
Zu den Kernforderungen des SSW zählt eine Reform der Schuldenbremse, um größere Investitionen in Infrastruktur und Klimaschutzmaßnahmen zu finanzieren, außerdem eine vom Elterneinkommen unabhängige Ausbildungsförderung (Bafög) nach dänischem Vorbild und einen gesetzlichen Mindestlohn von 15 Euro. Weitere Schwerpunkte sind der Minderheitenschutz, der Kampf gegen Rassismus und Extremismus sowie spezifische Regionalinteressen: etwa die Forderung nach mehr Bundesmitteln für die Sanierung der Bahninfrastruktur in Norddeutschland oder der Küstenschutz.
SSW war schon 1949 im ersten Bundestag vertreten
Der SSW wurde 1948 als politische Interessenvertretung der dänischen und friesischen Minderheiten gegründet. Er versteht sich traditionell als eine soziale und liberale Partei, die sich an politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Skandinavien orientiert. Der SSW ist seit Jahrzehnten im schleswig-holsteinischen Landtag vertreten und war von 2012 bis 2017 an der Landesregierung in Kiel beteiligt. Damals koalierte er mit SPD und Grünen.
Generell verzeichnet der SSW seit etwa 20 Jahren einen allgemein steigenden Wählerzuspruch. Bei der schleswig-holsteinischen Landtagswahl 2021 erreichte er mit 5,7 Prozent sein bisher bestes Landesergebnis. Vor diesem Hintergrund entschied die Partei 2021, sich erstmals seit Jahrzehnten wieder an einer Bundestagswahl zu beteiligen. Bereits dem 1949 gewählten ersten Bundestag hatte ein SSW-Abgeordneter angehört. Hermann Clausen, der das Konzentrationslager Neuengamme überlebt hatte, schied 1953 aus dem Parlament aus.
Weite Teile Schleswig-Holsteins gehörten jahrhundertelang zum dänischen Königreich. Der heutige Verlauf der deutsch-dänischen Grenze ist das Ergebnis einer Volksabstimmung von 1920, die nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg im Versailler Vertrag vereinbart wurde. Auf beiden Seiten der Grenze blieben danach Minderheiten zurück, die dort weiterhin lebten. 1948 gründete sich der SSW als Vertretung der dänischen und friesischen Minderheiten in Deutschland.
Quelle: ntv.de, tsi/dpa/AFP