Politik

Chaos nach der Parlamentswahl? Erdogans nationalistischer Alptraum

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Aksener will unter anderem die vier Millionen syrischen Flüchtlinge zurückschicken.

(Foto: picture alliance/dpa)

Die Partei des türkischen Präsidenten wird wahrscheinlich ihre Parlamentsmehrheit verlieren. Verantwortlich dafür ist die Politikerin Meral Aksener, die mit ihrer Iyi-Partei enttäuschte Nationalisten begeistert. Unruhige Zeiten drohen.

Türkische Schlagermusik, die Lautsprecher sind voll aufgerissen. Inbrünstig singt eine Männerstimme: "Ihre Augen erinnern an Sterne, ihre Brauen an den Mond." Gemeint ist mit der himmlischen Erscheinung die Präsidentschaftskandidatin Meral Aksener, die hier in Erzurum, der größten Stadt Ostanatoliens, einen ihrer letzten Wahlkampfauftritte hat. Ihre Unterstützer vor der Bühne schwenken die gelb-blaue Flagge der nationalistischen Iyi-Parti - der "guten Partei". Einige skandieren: "Präsidentin Aksener! Präsidentin Aksener!"

Es lässt sich darüber streiten, ob Meral Akseners Augen an Himmelskörper erinnern. Es ist auch unwahrscheinlich, dass die 61-Jährige an diesem Sonntag zur Präsidentin gewählt wird. Eines lässt sich aber kaum bestreiten: Aksener spielt im türkischen Wahlkampf eine besondere Rolle. Wenn die Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan bei den zeitgleich stattfinden Parlamentswahlen endgültig die Chance auf absolute Mehrheiten verliert, dann wegen Aksener und ihrer vor kaum einem Jahr gegründeten Partei.

Die CHP, die alte kemalistische Größe in der türkischen Politik, hat mit Muharrem Ince zwar einen Präsidentschaftskandidaten aufgestellt, für dessen humorvollen und klugen Wahlkampf sich Beobachter begeistern. Ince ist auch jemand, hinter dem sich ein großer Teil der extrem vielfältigen Opposition versammeln kann. Und ihm wird zumindest der Hauch einer Chance attestiert, Erdogan im Präsidentenpalast abzulösen. Geht es jedoch um das Parlament, wird die CHP Erdogans AKP aber überhaupt nicht gefährlich. Bei den Wahlen 2015 holte Inces Partei rund 25 Prozent. In der jüngsten Umfrage des Instituts Gezici legte sie kaum zwei Prozentpunkte zu. Verglichen damit ist die Iyi-Partei von Meral Aksener ein Alptraum für Erdogan und seine AKP.

Aksener will vier Millionen Syrer abschieben

Die Schlager verstummen, Akseners heisere Stimme ertönt und fesselt das Publikum für eine gute Stunde. Wenn sie darüber entscheiden dürfte, würde sie die vier Millionen Syrer abschieben, die Erdogan in den vergangenen Jahren aufgenommen hat, sagt sie. Aksener wettert gegen das korrupte Establishment und die Verschwendungssucht des Mannes im Präsidentenpalast. Sie verspricht armen und reichen Schülern gleiche Chancen. Der Mindestlohn soll steigen. Immer wieder pocht sie auf Rechtstaatlichkeit. Genauso gern verweist sie auf die schwächelnde türkische Wirtschaft. Aksener wirft Erdogan vor, Schuld am Handelsdefizit des Landes zu sein: "Statt Cag Kabab in der Welt berühmt zu machen, bringt uns Erdogan Hamburger", sagt sie. Cag Kebab ist eine lokale Delikatesse Erzurums. Erdogan sei auch an den Krebsleiden der Türken schuld - weil er so viele Zuckerfabriken privatisieren ließ, die jetzt minderwertige Qualität produzieren.

Ihre Rede im tiefkonservativen Erzurum fällt scharf aus. Aksener gilt für türkische Verhältnisse mittlerweile eigentlich als gemäßigte Nationalistin. Sie gilt auch als gemäßigt religiöse Politikerin. Eigenen Angaben zufolge lässt Aksener zwar kein Gebet ausfallen, wirbt aber zugleich für Säkularismus und verzichtet auf das symbolisch so aufgeladene Kopftuch.

Im Publikum stehen frühere Anhänger von Erdogans AKP - die 35 Jahre alte Sevgi etwa, die es nicht fassen konnte, wie viele Menschen Erdogan nach dem Putschversuch 2016 aus dem Staatsdienst jagte. Oder der 58-jährige Turgay, der sich von Erdogan betrogen fühlt. Die 24 Jahre alte Merve schreckte der Verfall der Rechtstaatlichkeit ab, die auf Linie gebrachten staatlichen Institutionen, die diktatorenhaften Ambitionen des Präsidenten.

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Aksener mobilisiert Tausende.

(Foto: picture alliance/dpa)

Sevgi, Turgay und Merve fanden eine neue Heimat bei der Iyi-Partei. Nicht direkt. Zunächst unterstützten sie die ultranationalistische MHP, der auch Aksener lange angehörte. Deren Vorsitzender Devlet Bahceli setzte sich allerdings beim Verfassungsreferendum vor einem Jahr für Erdogans Präsidialsystem ein. Für die anstehenden Parlamentswahlen bildet er nun eine Wahlallianz mit dessen AKP. Wohl auch aus Angst, andernfalls an der ungewöhnlich hohen Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament zu scheitern.

Die Umfragewerte der MHP sind eingebrochen, vor allem wegen ihrer Zusammenarbeit mit Erodgan. Im Sommer 2015 hatte die Partei noch 16 Prozent geholt. Mittlerweile hat sich dieser Wert Umfragen zufolge mehr als halbiert. Die Iyi-Partei dürfte es den Demoskopen zufolge dagegen auf rund zehn Prozent bringen. Sie drängt die MHP, die Erdogan als Mehrheitsbeschaffer braucht, geradewegs in die Bedeutungslosigkeit und raubt der rechten Allianz die vielleicht entscheidenden Stimmen. Zwar hat Erdogan das Parlament mit seiner Verfassungsreform weitgehend entmachtet, egal können ihm die fehlenden Mehrheiten trotzdem nicht sein.

Erdogan setzt auf Krieg und Terror

Der deutsche Experte für türkisches Verfassungsrecht Christian Rumpf hält die neue türkische Verfassung für völlig untauglich. Sollte Erdogan Präsident werden, aber seine AKP das Parlament verlieren, rechnet er mit einem "Parlamentschaos". Gesetze könnten dann nur noch mit wechselnden Mehrheiten zustande kommen. Und Erdogan kann sie als Präsident einfach blockieren. Ihm selbst bleibt dagegen eine Möglichkeit, am Parlament vorbei zu regieren. "Ich sehe die Gefahr, dass Erdogan mit Präsidialverordnungen regiert, wenn ihm die Mehrheit im Parlament fehlt."

Die neue Verfassung schränkt die Rechte des Parlaments massiv ein. Keine Vertrauensfrage mehr, kein Misstrauensvotum - um den Präsidenten zu stoppen, können die Abgeordneten gegen Dekrete des Präsidenten nur noch vorm Verfassungsgericht klagen. Das ist aber jetzt schon mit Tausenden von Verfassungsbeschwerden in der Türkei völlig überlastet. Zwar existiert laut Rumpf die Rechtspraxis, die Durchführung angegriffener Gesetze oder Dekrete bis zu einer endgültigen Entscheidung per einstweiliger Anordnung zu stoppen. Doch zweifelt er, dass Erdogan sich daran halten würde. Das einzige wirksame Mittel wäre, wenn die Opposition ein Ermittlungsverfahren gegen den Präsidenten anstößt. Dazu bedarf es aber entsprechenden Mehrheiten im Parlament. Die Abgeordneten müssten ihm überdies konkrete Straftaten nachweisen.

Trotz der neuen Schwäche des Parlaments dürfte Erdogans Nimbus als Herrscher der Mehrheit der Türken wohl endgültig zerstört sein, wenn er nur noch per Präsidialverordnung regiert. Schon der Umstand, dass er seit dem Putschversuch einen Ausnahmezustand aufrechterhält und zum Regieren missbraucht, trägt dazu bei. Deshalb sprießen längst Spekulationen, dass Erdogan beim Verlust der absoluten Mehrheit im Parlament schnell Neuwahlen ansetzt. Nur was, wenn es dann wieder nicht reicht?

Angesichts der neuen Kraft Iyi-Partei hat Erdogan einigen Umfragen zufolge nur noch wenig Chancen auf die absolute Mehrheit seiner AKP im Parlament hegen: Er muss auf einen wundersamen Stimmenzuwachs bei den eigenen Leuten setzen oder auf das Scheitern der prokurdischen HDP an der Zehn-Prozent-Hürde hoffen. Wie AKP und MHP hat auch die Opposition eine Wahlallianz gegründet. Neben CHP und Iyi gehört die islamistische Saadet-Partei dazu. Die HDP allerdings ist ausgeschlossen.

Aksener ging angesichts ihrer nationalistischen Klientel und ihrer eigenen Biografie sehr weit, als sie forderte, den HDP-Politiker Selahattin Demirtas für den Wahlkampf aus der Haft zu entlassen. Sie pochte auf Rechtstaatlichkeit. Demirtas ist nicht verurteilt, muss aber aus dem Gefängnis heraus für das höchste Amt kandidieren. Doch, das ist zumindest eine Befürchtung einiger Erdogan-Kritiker, ging Aksener vielleicht nicht weit genug. Aksener zeichnet maßgeblich dafür verantwortlich, dass die HDP nicht Mitglied der oppositionellen Wahlallianz werden durfte.

Die HDP lag in Umfragen zuletzt zwar regelmäßig über der Zehn-Prozent-Hürde. Sollte sie den Einzug ins Parlament wider Erwarten aber verpassen, wäre der AKP-MHP-Allianz die Mehrheit wohl sicher. Kein Wunder also, dass weder Ince noch Aksener das Hauptziel der Wahlkampfangriffe des Präsidenten sind. Erdogan setzt ganz auf seinen Kampf gegen die Kurden im Norden Syriens und die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK. Und er lässt keine Gelegenheit aus, um die HDP in einem Atemzug zu nennen.

Quelle: ntv.de

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