Reisners Blick auf die Front "Im Donbass brauchen die Ukrainer gerade Nerven aus Stahl"
16.12.2024, 19:39 Uhr Artikel anhören
(Foto: IMAGO/ABACAPRESS)
Im Donbass versuchen die Russen, die Stadt Pokrowsk südlich zu umgehen und ihr dann den Nachschub abzuschneiden. Oberst Markus Reisner erklärt ntv.de, warum die ukrainischen Truppen dort so unter Druck stehen und was ihr Gegenangriff bringt.
ntv.de: Herr Reisner, am Wochenende hat Russland wieder zwei Eroberungen im Donbass vermeldet. Können Sie die bestätigen? Wie ist die Lage dort?
Markus Reisner: Im Zentrum des Donbass sehen wir massive russische Angriffe durch die drei Gruppierungen Centr, Yug und Vostok. Binnen einer Woche hat Russland 630 Gleitbomben, 550 Shahed-Drohnen und mehr als 100 Marschflugkörper gegen die Ukraine eingesetzt. Bei Kupjansk greift die Gruppierung Centr weiter in Richtung des Flusses Oskil an. Sie macht dort massiv Druck und auch südlich davon, bei Sieversk. Dort gab es jüngst einen massiven Angriff, den die Ukrainer allerdings erfolgreich abgewehrt haben. Ostwärts von Pokrowsk steht Torestk vor dem Fall. Den Kessel bei Kurachowe, südlich von Pokrowsk, hat die Gruppierung Yug inzwischen zu etwa 70 Prozent eingedrückt. Trotzdem scheint es der ukrainischen Armee bisher gelungen zu sein, ihre Verbände halbwegs geordnet abzuziehen. Das ist ein gutes Zeichen.
Inwiefern?
Zumindest in der Hinsicht, dass es nicht zu größeren Einkesselungen gekommen sein dürfte. Die Gefahr bestand. In dem Fall wären viele Soldaten in Gefangenschaft geraten, das wäre tatsächlich schlimm geworden.
Die Frontlinie ist noch immer zehn Kilometer von Pokrowsk entfernt, obwohl wir schon seit Wochen den Vormarsch auf die Stadt sehen. Die Ukrainer verteidigen dort zäh, oder?
Das zum einen, man muss aber zum anderen auch sehen, dass beide Seiten enorm abgekämpft sind. Die Russen wollen offenbar einen frontalen Angriff auf die Stadt vermeiden. Stattdessen versuchen sie, Pokrowsk von Süden aus zu umfassen. Auf der Karte ist das gut zu sehen: Die Front verläuft im Süden schon hinter der Stadt, nahe der Ortschaft Pischane. Das liegt viel weiter westlich.
Die Angreifer wollen Pokrowsk zunächst einmal umgehen, denn dorthin gibt es aus Richtung Westen zwei Versorgungsstraßen und eine Eisenbahnlinie. Wenn sie diese Routen unterbrechen, kommt kein Nachschub mehr in die Stadt hinein. Dann kann man sie im Sturm nehmen. Aber die Ukraine hat nun mit einem Gegenangriff reagiert.
Konnten die Verteidiger per Gegenangriff den russischen Vormarsch stoppen?
Zunächst mal ja, die ukrainischen Kämpfer haben sich hier etwas Luft verschafft, und das ist eine bemerkenswerte Nachricht. Aber die Russen können mit ihrem Vormarsch schnell wieder Fahrt aufnehmen. Und sie kämpfen dort, südlich von Pokrowsk, bereits gegen die dritte ukrainische Verteidigungslinie. Das Problem sind die ausgedünnten Stellungen der Ukrainer. Da stehen zwei, drei Soldaten, dann kommt 300 Meter nichts, dann stehen da wieder zwei, drei Soldaten. Da ist die Front so überdehnt, dass immer russische Angreifer durchkommen können und die stehen dann plötzlich hinter den Ukrainern. Dann weiß man als Frontsoldat nicht: Sind das jetzt nur diese drei oder sind es mehr? Um in dieser Situation in der Stellung zu bleiben und nicht zurückzuweichen, brauchen Sie wirklich Nerven aus Stahl.
In einer solchen Bedrohungslage: Woher nehmen die Ukrainer da die Kraft für einen Gegenangriff?
Sie haben dort jetzt einige Kräfte zusammengezogen. Einerseits zum Beispiel Eliteeinheiten wie die 25. Luftsturmbrigade und die 152. Jägerbrigade, die sich dort im Einsatz befinden. Andererseits sind dort auch Brigaden, die erst vor kurzem aufgestellt worden sind. Die waren eigentlich als strategische Reserven gedacht, aufgestellt für eine zukünftige Offensive. Weil aber der Druck an der Front südlich von Pokrowsk so groß war, hat der Generalstab die Brigaden rasch an die Front geschickt, zum Beispiel die 155. Mechbrigade, also eine schwere Brigade mit Kampf- und Kampfschützenpanzern. Die wurde erst im vergangenen Mai aufgestellt, das ist noch nicht lange her.
Es gab Berichte von Desertierenden dort an der Front. Wie groß ist das Problem?
Ein ukrainischer Journalist berichtete von mehreren 100 Soldaten der 155. Mechbrigade, die geflüchtet seien im Angesicht der Angriffe. Dieser Journalist tritt immer mal mit Analysen in Erscheinung. Die Russen haben das sogleich aufgegriffen und kommuniziert.

Markus Reisner ist Oberst im Österreichischen Bundesheer und ein renommierter Experte für den Ukrainekrieg. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Front.
(Foto: privat)
Ist die Kampfmoral so tief gesunken?
Die hohe Zahl von Desertierenden ist das Ergebnis verschiedener Faktoren: Diese neuen Brigaden haben mit vier bis fünf Wochen nur eine sehr kurze Ausbildung bekommen. Als Unbedarfter können Sie in so kurzer Zeit kaum etwas lernen, das tatsächlich auf das vorbereitet, was Sie an der Front erwartet, also Ihnen wirklich zum Überleben dient. Vor kurzem sprach ich mit einem Kameraden, der in Wuhledar gedient hatte, der berichtete ähnliches. Seine Einheit wurde mit Männern im Alter 50plus und ohne Erfahrung verstärkt. Im Angesicht des Artilleriefeuers sind die einfach davongelaufen.
Wohin?
Die waren nicht weit weg, ein paar Kilometer hinter den Stellungen, wo sie sich versteckt haben. Ansonsten kommt man in der Tat nicht so leicht weg von der Front, es sind große Distanzen. Wenn Sie da zu Fuß wegmarschierten, würde das ewig dauern. Aber die Stellungen waren plötzlich leer. Das war das Problem. Sie waren im Schock davongerannt.
Das Artilleriefeuer hatte also eine Art Schockwirkung?
Genau. Ein ebensolches Schockerlebnis ist es, wenn zum ersten Mal ein Panzer auf Sie zurollt. Das muss man erstmal aushalten. Wenn diese Soldaten dann die ersten Angriffe und Artillerieschläge hinter sich haben, setzt schon Gewöhnung ein. Dann sammeln sie Erfahrungen und lernen quasi direkt an der Front. Dann lockert sich die Situation wieder etwas auf. Aber dieser erste Schock ist oft ein ganz entscheidender. Der kann dazu führen, dass Leute sich absetzen.
Und was blüht ihnen, wenn sie gefunden werden?
Das Gesetz haben die Ukrainer gerade erst gelockert. Nach Angaben der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft wurden seit Februar 2022 mehr als 100.000 Soldaten wegen Desertion angeklagt. Man musste daher reagieren. Es gilt nun eine Generalamnestie und das bedeutet: Soldaten, die davongelaufen sind und sich jetzt wieder zurückmelden, kommen ungeschoren davon. Nach Angaben der ukrainischen Seite sind allein aufgrund dieser Maßnahme in den letzten Wochen mehr als 6000 Soldaten wieder zu ihren Einheiten an der Front zurückgekehrt.
Sie nannten den Artillerieschock als ein wichtiges Moment für sinkende Moral an der Front. Wie sieht es aus mit Fehlern, die aus Unerfahrenheit begangen werden?
Problematisch ist die Unkenntnis über das Wesen und die Wirkung verschiedener Waffensysteme. Sie nehmen wahrscheinlich die feindlichen FPV-Drohnen so lange nicht ernst, bis Sie von einer das erste Mal zumindest fast getroffen werden. Ab diesem Moment richten Sie mit einem Auge den Blick nach oben. Immer. Sie werden zu einem Chamäleon. Dann das schon erwähnte Artilleriefeuer. Erst an der Front lernen Sie, die unterschiedlichen Granatentypen am Geräusch zu unterscheiden. Ist das gefährlich oder nicht? Die bedrohlichste Munition sind eigentlich die kleinen Kaliber, die aus Mörsern verschossen werden. Die haben zwischen 82 und 120 Millimeter Durchmesser und fliegen in einem so steilen Winkel ein, dass sie oft nicht zu hören sind. Das ist das Problem, die schlagen einfach ein.
Bei Pokrowsk halten sich die Ukrainer also unter großem Druck. Wie ist die Lage in Kursk? Wird das auch gehalten?
Hier wird die Lage immer schwieriger. Der russische Druck ist unvermindert hoch. Welle für Welle greift an. Die Ukrainer weichen zurück, um nicht umfasst zu werden. Es kursieren nun erste Videos, die nordkoreanische Soldaten im Einsatz zeigen sollen.
Ein sehr drastisches Video zeigte mindestens 30 Soldaten, die im Einsatz getötet wurden. Die Ukrainer behaupten, das seien Nordkoreaner, aber belegen lässt sich das noch nicht. Zudem hören wir Gerüchte aus der Ukraine, dass möglicherweise eine weitere Gegenoffensive geplant ist - also ein weiterer Angriff auf russisches Territorium, analog zu Kursk. Das kann ein Täuschungsversuch sein. Aber es würde einer gewissen Logik entsprechen, wenn die Ukraine noch einmal unmittelbar vor der Amtseinführung Donald Trumps in den Angriff übergehen würde. Auch wenn sie dafür ihre kostbaren Reserven einsetzen müsste. Gelänge es den Ukrainern, bei Trumps Übernahme der US-Präsidentschaft noch einmal die Grenze zu überschreiten und weiteres russisches Gelände in Besitz zu nehmen, dann hätte sie ein wirkliches Faustpfand in der Hand.
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de