150 Milliarden Neuverschuldung Kabinett beschließt umfangreiches Hilfspaket
23.03.2020, 12:25 Uhr
Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde der Kabinettssitzung per Telefon zugeschaltet.
(Foto: picture alliance/dpa)
Das Bundeskabinett verabschiedet in der Coronavirus-Krise mehrere große Schutzschirme. Damit sollen Bürger und Unternehmen vor den finanziellen Folgen der Pandemie geschützt werden. Es ist ein historisches Hilfspaket, für das sich der Bund in diesem Jahr mit der Rekordsumme von rund 156 Milliarden Euro neu verschuldet.
Im Eiltempo hat das Bundeskabinett die Hilfen für die Wirtschaft zur Bewältigung der Corona-Krise auf den Weg gebracht. Ungewöhnlich war schon der Wochentag, denn die Ministerrunde tagt eigentlich immer mittwochs. Noch ungewöhnlicher war, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel das Kabinett per Telefonschalte leitete - sie ist selbst in Quarantäne. "Die Corona-Pandemie verändert unser ganzes Leben", sagte Bundesfinanzminister Olaf Scholz in Berlin. Deutschland habe genug Geld, um jetzt entschlossen zu handeln. "Wir werden nicht zögern", sagte der SPD-Politiker.
Mit einem beispiellosen Hilfspaket unterstützt der Bund Familien, Mieter, Beschäftigte, Selbstständige und Unternehmen in der Coronavirus-Krise. Das Kabinett beschloss gleich mehrere große Schutzschirme und umfangreiche Rechtsänderungen. Damit die Hilfen rasch ankommen, soll im Schnellverfahren der Bundestag bereits am Mittwoch und der Bundesrat am Freitag den Maßnahmen zustimmen.
Für die umfangreichen Hilfen fällt nach sechs Jahren ohne neue Schulden die schwarze Null im Bundeshaushalt - das Kabinett beschloss einen Nachtragshaushalt mit einer Neuverschuldung von rund 156 Milliarden Euro. Dafür soll der Bundestag am Mittwoch eine Notfallregelung in der Schuldenbremse in Kraft setzen. Die Summe kommt demnach durch erwartete Steuerausfälle von 35 Milliarden Euro sowie Mehrausgaben von 122 Milliarden Euro zustande.
Zu dem Nachtragshaushalt kommt noch ein Rettungsfonds im Volumen von 600 Milliarden hinzu. Dieser sieht Garantien in Höhe von 400 Milliarden Euro vor, damit sich Firmen weiter Geld am Kapitalmarkt besorgen können. Hinzu kommen 100 Milliarden Euro für Staatsbeteiligungen an Unternehmen sowie 100 Milliarden zur Refinanzierung der Förderbank KfW. Das Gesetz soll zeitlich befristet bis Ende 2021 gelten. Die EU-Kommission muss dem Vorhaben zustimmen.
Die Bundesregierung betonte nach den Beschlüssen die historische Dimension der Hilfspakete. "Die Bundesregierung nimmt so viel Geld wie noch nie in die Hand, um die Wirtschaft zu stabilisieren und Arbeitsplätze zu schützen", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin. Eine Kabinettssitzung wie diese, in der ein Maßnahmenpaket im Volumen von weit über einer halben Billion Euro beschlossen wurde, habe es so "in der Geschichte der Bundesrepublik wohl noch nicht gegeben", sagte Seibert. Auch das parlamentarische Verfahren, in dem die Kabinettsbeschlüsse bereits bis Ende der Woche Gesetzeskraft bekommen sollen, habe es so noch nicht gegeben.
50 Milliarden für Kleinstunternehmen
Das Hilfspaket umfasst viele Bereiche: Kleinstunternehmen aus allen Wirtschaftsbereichen, Solo-Selbstständige und Freiberufler mit bis zu fünf Beschäftigten können demnach eine Einmalzahlung von 9000 Euro für drei Monate bekommen. Wer bis zu zehn Beschäftigte hat, 15.000 Euro. Voraussetzung für einen Zuschuss ist, dass der Betrieb oder Selbstständige vor März 2020 nicht in wirtschaftlichen Schwierigkeiten war.
Bis zu 50 Milliarden Euro sind für Solo-Selbstständige und Kleinstunternehmen vorgesehen. Sie sollen Wirtschaftsminister Peter Altmaier zufolge rasch ausgezahlt werden. "Wir geben einen Zuschuss, es geht nicht um einen Kredit", betonte Scholz. "Es muss also nichts zurückgezahlt werden", sagte er. "Der klassische Mittelstand, also Unternehmen zwischen elf bis 249 Beschäftigten, bleibt aber weitgehend außen vor", sagte Mittelstands-Präsident Mario Ohoven der Nachrichtenagentur Reuters. Altmaier widersprach: Es werde keine Lücke bei den Hilfen geben. Mittelständlern werde mit Bürgschaften und Kreditlinien geholfen.
Über einen Stabilisierungsfonds sollen Großunternehmen mit Kapital gestärkt werden können, der Staat soll sich notfalls auch an den Firmen beteiligen können. Außerdem sollen Vermieter ihren Mietern nicht mehr kündigen dürfen, wenn diese wegen der Krise ihre Miete nicht zahlen können. Mit erweiterten Regelungen zur Kurzarbeit sollen Unternehmen zudem Beschäftigte leichter halten können, statt sie in die Arbeitslosigkeit zu schicken.
Finanz- und Wirtschaftsministerium baten, Anträge möglichst elektronisch zu stellen. Die Anträge sollen demnach die Länder bearbeiten, diese sollen auch die Mittel auszahlen und gegebenenfalls auch zurückfordern. Bei der Steuerveranlagung für die Einkommen- oder Körperschaftsteuer 2021 wird der Zuschuss demnach gewinnwirksam berücksichtigt. Wirtschaftsminister Altmaier betonte: "Wir lassen niemanden allein. Es darf und wird hier keine Solidaritätslücke geben."
Kliniken mit Milliardenzahlung unterstützt
Außerdem sollen Vermieter ihren Mietern nicht mehr kündigen dürfen, wenn diese wegen der Corona-Krise ihre Miete nicht zahlen können. Bei Anträgen auf Hartz IV sollen die Vermögensprüfung und die Prüfung der Höhe der Wohnungsmiete für ein halbes Jahr ausgesetzt werden. Familien mit Einkommenseinbrüchen sollen leichter Kinderzuschlag bekommen. Scholz verweist darauf, dass Eltern von Kindern unter zwölf Jahren Anspruch auf eine Kompensation in Höhe von 67 Prozent ihres Lohnausfalls haben, wenn sie wegen mangelnder Kinderbetreuung nicht arbeiten können. Der Reuters vorliegende Gesetzentwurf geht von bis zu 1,36 Millionen Betroffenen aus.
Außerdem wurde das Kurzarbeitergeld ausgeweitet. Scholz sieht nun Firmen in der Pflicht, das Kurzarbeitergeld für Beschäftigte aufzustocken. Die Bundesagentur für Arbeit zahlt 60 Prozent - für Beschäftigte mit Kindern 67 Prozent - des Lohnausfalls. Deutschlands Krankenhäuser sollen mit mehr als drei Milliarden Euro unterstützt werden. Das Kabinett beschloss zudem, dass der Bund mehr Kompetenzen beim Seuchenschutz bekommt, dass das Insolvenzrecht gelockert wird und dass Unternehmen wie Vereine ihre Haupt- und Jahresversammlungen auch online abhalten dürfen.
Laut Münchner Ifo-Institut werden die erwarteten Produktionsausfälle den Arbeitsmarkt und den Staatshaushalt erheblich belasten. "Die Kosten werden voraussichtlich alles übersteigen, was aus Wirtschaftskrisen oder Naturkatastrophen der letzten Jahrzehnte in Deutschland bekannt ist", sagte Ifo-Präsident Clemens Fuest. Je nach Szenario dürften Kosten von 255 Milliarden bis 729 Milliarden Euro auf Deutschland zukommen. Altmaier sagte, der Rückgang des Bruttoinlandsproduktes (BIP) werde 2020 "mindestens so hoch sein" wie in der Finanz- und Wirtschaftskrise. Im Jahr 2009 war das BIP um 5,7 Prozent eingebrochen. Scholz zufolge wurde bei den Berechnungen für den Nachtragshaushalt ein Absturz von "etwa fünf Prozent" zugrunde gelegt. Ab 2010 wuchs die deutsche Wirtschaft zehn Jahre in Folge.
Quelle: ntv.de, vmi/dpa/rts/AFP