Politik

Israels neue Regierung Sie können es, sie tun es, einfach so

4216fe6c7e99761aee90c23de1d4898b.jpg

Premierminister Bennett bei einer Graduierungsfeier für Piloten der israelischen Luftwaffe.

(Foto: dpa)

Eigentlich hat Israels neue Regierung keine Chance: zu unterschiedlich sind die beteiligten Parteien. Seit zwei Wochen ist sie nun im Amt. Und im Land herrscht Aufbruchstimmung.

Zwölf Jahre lang war Benjamin Netanjahu ununterbrochen der mächtigste Mann Israels. Er prophezeite den Untergang seines Landes, falls er nicht mehr Premier wäre, er drohte, warnte, diffamierte, beschimpfte. Bis heute tut er das, obwohl seit zwei Wochen Naftali Bennett neuer Premierminister des jüdischen Staates ist. Und siehe da, das Land steht noch.

Netanjahu lässt sich von seinen treuesten Vasallen immer noch "Premierminister" nennen, er wohnt immer noch mit seiner Familie im Amtssitz des israelischen Premiers in der Balfour-Straße in Jerusalem. Das allerdings inzwischen nur noch auf Zeit, Bennett verlangt seinen Auszug zum 10. Juli. Dann müssen "Bibi", wie Netanjahu in Israel genannt wird, seine Frau Sarah und sein Sohn Yair endgültig aus- und in ihre private Villa in Caesarea umziehen. Die letzten Insignien der Macht werden Netanjahu allmählich entzogen.

Netanjahu war immer ein Meister der PR. Und so lässt er sich ununterbrochen auf seinen Social-Media-Kanälen blicken. Mit kurzen Videos, mit Fotos. Unlängst tauchte er am Strand von Bat Yam auf, einem Vorort im Süden Tel Avivs: Netanjahu im Anzug und Krawatte am Meer. Ein wenig albern sah das aus, mit seinen hochgekrempelten Hosen und barfuß. Fast schien es, als habe das PR-Glück ihn verlassen. Um ihn herum waren ein paar Berater und treue Freunde, aber nicht mehr der Hofstaat und auch nicht mehr das ganz große Sicherheitsaufkommen wie früher, nur noch ein paar wenige Männer mit Knopf im Ohr. Netanjahu kämpft verzweifelt um sein Image, er bereitet sein Comeback vor, zumindest hofft er das. Und man darf ihn wahrlich nicht unterschätzen. Er ist der wohl intelligenteste, schlaueste und sicher auch ruchloseste Politiker, den Israel hat.

Netanjahu ist der Kitt der neuen Koalition

Doch je präsenter Netanjahu als Führer der Opposition bleibt, desto länger dürfte die neue Koalition überleben. Denn ihre Abneigung gegenüber Netanjahu, ihre Überzeugung, dass der immer mehr zum Autokraten mutierte rechtskonservative Politiker die zerbrechliche Demokratie Israels endgültig zerstören könnte, ist der Kitt, der die acht ideologisch so unterschiedlichen Parteien zusammenhält.

In gerade mal zwei Wochen hat die neue Regierung, geführt von Naftali Bennett und Yair Lapid, einen neuen Stil eingeführt, den man in anderen Demokratien schlicht als "Normalität" bezeichnen würde. Bennet ist zwar Regierungschef, doch der Koalitionsmacher ist Lapid. Der einstige Journalist, dessen "Zukunftspartei" der politischen Mitte angehört, hat mit viel Geduld das Unmögliche wahr gemacht: Netanjahu auf die Oppositionsbank zu verbannen. Dabei hat er sein Ego in die Ecke gestellt, für einen Politiker eine heroische Tat. Denn seine Partei hat innerhalb der neuen Koalition die meisten Mandate, das Amt des Premiers stünde eigentlich ihm zu. Doch er wusste, dass er ohne den Ultrarechten Naftali Bennett keine Mehrheit in der Knesset erzielen könnte - und trat für das größere Ziel einen Schritt zurück. Bennett führt nun die Koalition als erster, Lapid ist sein Außenminister und "alternierender Premier". In zwei Jahren soll er Bennett ablösen. Ob es so weit kommt? Wird die Koalition nicht viel früher auseinanderbrechen?

cce397561a9bb26e3247ef7af230daf0.jpg

Außenminister Lapid, hier bei Gesprächen mit seinem US-Kollegen Blinken, ist der Architekt dieser unwahrscheinlichen Koalition.

(Foto: dpa)

Doch wer die Kabinettssitzungen der neuen Regierung beobachtet, staunt. Es herrscht eine vertrauensvolle Atmosphäre, man lacht sogar und hat Spaß miteinander. Diese Tatsache wird in Israel beinahe wie "Breaking News" behandelt. Ebenso der Tweet von Premier Bennett, der freudig erklärte, dass es eine ganze tolle Sache sei, dass Außenminister Lapid in die Vereinten Arabischen Emirate fliegen werde, um die Beziehungen zwischen beiden Ländern weiter auszubauen. Eine Normalität wird zur Sensation: Ein Regierungschef begrüßt die Reise seines Außenministers. Das hat es unter Netanjahu nicht gegeben. Denn entweder war er über eine solche Reise nicht erfreut, oder aber - in den meisten Fällen - er reiste selbst, um niemand anderem den Vortritt oder gar die Aufmerksamkeit zu überlassen.

Erst jetzt wird klar, wie krank das System Netanjahu

Es herrscht Aufbruchstimmung in Israel. Die neuen Minister arbeiten sich in ihre Ämter ein und entdecken, was für ein Chaos die Netanjahu-Jahre in der Verwaltung hinterlassen haben, da "Bibi" in den letzten Jahren immer mehr Entscheidungsbefugnisse ins Amt des Premiers gezogen hatte. Derweil jettet Lapid um die Welt. Er und Bennett wollen das durch Netanjahu zerrüttete Verhältnis mit den Europäern, vor allem aber mit den amerikanischen Demokraten verbessern. Netanjahu hatte sich ganz auf die Seite der Republikaner geworfen, in die Arme von Donald Trump, und damit die "bi-partisanship" zerstört, also die amerikanische Doktrin, dass Israel für beide Parteien gleich wichtig ist. Man werde die Differenzen, die man mit der Biden-Administration beim Thema Iran habe, hinter verschlossenen Türen besprechen, wie sich das für Freunde und Alliierte gehört, betonte Lapid bei einem Treffen mit US-Außenminister Antony Blinken in Rom. Eine klare Ohrfeige für Netanjahu, der Biden zuletzt öffentlich vorgeworfen hatte, dieser würde angesichts seines Versuchs, mit den Iranern einen Nukleardeal auszuhandeln, einen zweiten Holocaust am jüdischen Volk zulassen. Was im Grunde das selbstverständliche Gebaren einer demokratischen Regierung ist, macht im Nachhinein schmerzlich bewusst, wie krank das System Netanjahu war.

Tatsächlich ist die aktuelle Koalition ein Segen für das Land. Viele Beobachter schreiben auch jetzt noch, dass diese Regierung nicht lange überleben kann. Zu unterschiedlich, zu divergent, zu ideologisch fremd seien sich die Parteien. Wie kann eine arabische Partei, die sich zu den Muslimbrüdern zählt, mit rechtsnationalen Siedlungsbefürwortern wie Gideon Sa’ar, Avigdor Lieberman und Naftali Bennett an einem Tisch sitzen? Wie kann der homophobe Mansour Abbas, der Führer ebenjener "Ra’am"-Partei, mit dem schwulen Chef der linken Meretz-Partei, Gesundheitsminister Nitzan Horowitz, gemeinsame Sache machen? Wie kann die Feministin und Linke Merav Michaeli mit der ultrarechten Ayelet Shaked Kaffee trinken? Und siehe da, die Antwort ist: Sie können es. Sie tun es. Einfach so. Sie schaffen die Quadratur des Kreises. Für wie lange? Das weiß zum jetzigen Zeitpunkt wirklich niemand. Kann sein, dass die Regierung Bennett in einem Jahr bereits Geschichte ist. Man hat sich im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, keine "ideologischen Entscheidungen" zu treffen. Die rechten Parteien haben ebenso ein Vetorecht wie die Mitte-Links-Parteien. Kann das gut gehen auf Dauer?

Aber das ist im Augenblick nicht die entscheidende Frage. Nach den Jahren der Spaltung, der tiefen Gräben, die Netanjahu ganz bewusst in die israelische Gesellschaft gerissen hat, nach den Jahren des Hasses, der politischen Feindschaften, ist diese neue Regierung ein Segen. Klar, es ist keine "Liebesheirat", die sie alle eingegangen sind. Aber die pragmatische Entscheidung, das Land gemeinsam vor dem Populismus und der Autokratie retten zu wollen, macht sie zumindest für eine gewisse Zeit zu Verbündeten. Und selbst wenn man sich eines Tages wieder trennt und in einer neuen Wahl gegeneinander antritt - die Tatsache, dass man miteinander an einem Tisch saß und sich obendrein ganz gut verstand, könnte helfen, das Land mit seinen tiefen Widersprüchen zu heilen. Vielleicht. Es könnte eventuell auch in kleinen Schritten dazu führen, dass Juden und Araber innerhalb Israels sich langsam näher kommen. Und selbst der Likud könnte eines Tages - ohne Netanjahu natürlich - Teil dieser neuen Allianzen innerhalb der israelischen Gesellschaft werden. Wer allerdings für immer ausgeschlossen bleibt: die Ultraorthodoxen. Selbst wenn sie eines Tages wieder an die Macht kämen - und davon muss man ausgehen: Ihr egoistisches, aggressives und uneinsichtiges Verhalten während der Corona-Lockdowns wird niemand vergessen. Sie sind einerseits ein "Staat im Staat". Aber sie werden inzwischen von der Mehrheit der Israelis noch mehr gehasst und verachtet als früher. Das wird bleiben.

Quelle: ntv.de

ntv.de Dienste
Software
Social Networks
Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen