Politik

Kiews Chefausbilder warnt"Nato-Länder sind nicht auf einen großen Krieg vorbereitet"

18.11.2025, 19:28 Uhr
Paramedics-take-an-injured-colleague-to-the-ambulance-after-twin-Russian-bombings-in-Kharkiv-Ukraine-Sunday-Sept-1-2024
Sanitäter versorgen einen Verletzten in Charkiw. (Foto: AP)

In der Ukraine unterteilen Schlachtfeldsanitäter die Verwundeten in drei Kategorien. Da es schwer ist, sie schnell wegzubringen, bildet die Armee ihre Soldaten auch in medizinischer Versorgung aus, sagt Denys Surkov, Direktor der verantwortlichen Militärakademie. "Solange in der Nato die Strukturen für die Rettung Verwundeter noch die alten sind, die in Afghanistan herrschten, sind ihre Mitgliedsländer auf einen großen Krieg nicht vorbereitet", sagt er im Interview mit ntv.de. Auch die deutsche Zivilbevölkerung müsse trainiert werden.

Ntv.de: Herr Surkov, am Wochenende berichteten wir in unserem Ukraine-Liveticker von einem Soldaten, der mit einer Kopfverletzung drei Tage lang in der Todeszone auf seine Rettung warten musste. Die kam, der Soldat hat überlebt, es erscheint aber wie ein Wunder. Müssen Verwundete im Donbass derzeit auf solche Wunder hoffen?

Denys Surkov: Für Verletzte gibt es drei Kategorien: Alpha, Bravo und Charlie. Der Soldat, von dem Sie berichten, war definitiv nicht Kategorie Alpha, denn ein Alpha-Verwundeter stirbt binnen weniger Stunden ohne Hilfe. Derzeit brauchen wir an der Frontlinie sechs bis acht Stunden, um einen Verwundeten herauszuholen. Im besten Szenario. Im schlechtesten Fall dauert es tatsächlich mehrere Tage. Dazu muss man Folgendes verstehen: Die Ukraine ist in diesem Krieg in einer anderen Lage, als es etwa die US-Truppen im Irakkrieg oder in Afghanistan waren. Dort basierte deren Logistik auf der Lufthoheit ihrer eigenen Armee. Sie war dem Gegner mit Blick auf die Kriegsführung vollständig überlegen. Die durchschnittliche Evakuierungszeit betrug damals eine Stunde.

Die goldene Stunde.

Exakt, die goldene Stunde. Die basiert auf der Physiologie des Menschen und bedeutet: Nach schwerer ballistischer Verwundung, also durch eine Kriegswaffe, haben Sie nicht länger als eine Stunde Zeit, um die Blutung zu stoppen und dem Verwundeten die lebensnotwendige Menge Blut zu geben. Dass wir diesen Wert in der Ukraine derzeit kaum erreichen, liegt nicht an uns. Es ist der Unterschied zwischen einem Konflikt niedriger oder mittlerer Intensität, wie es der Irakkrieg war, und einem hochintensiven Krieg wie es Russlands Vollinvasion ist.

Das hieße, sobald Nato-Staaten in einen Krieg solchen Ausmaßes geraten würden, hätten sie dieselbe Situation wie die Ukraine jetzt?

Die höchsten Verwundetenzahlen der US-Armee in Afghanistan waren 40 Personen an einem Tag. Entlang der Front in der Ukraine erleben wir keinen Tag mit weniger als 400 bis 600 Verwundeten. Das ist ein Verhältnis von 1 zu 10. Solange in der Nato die Strukturen für die Rettung Verwundeter noch die alten sind, die in Afghanistan herrschten, sind ihre Mitgliedsländer auf einen großen Krieg nicht vorbereitet.

Wenn man selbst für Alpha-Verwundete, die sofortige Hilfe benötigen, sechs bis acht Stunden braucht, um sie erstmal aus der Todeszone herauszuholen, was kann man machen? Haben die einfach keine Chance?

Sie trainieren die Soldaten.

Damit Kameraden sich noch im Frontabschnitt gegenseitig retten können?

So müssen sie es machen. Weil das medizinische Personal in den Einheiten niemals ausreichen wird. Sie müssen Ihre Soldaten trainieren, die müssen diese Hilfe leisten können. Das erfordert allerdings auch eine sehr gute Logistik. Wir brauchen im Donbass nicht nur eine sichere Versorgungslinie von der Front ins Hinterland, um Verwundete dorthin zu bringen, sondern wir brauchen die sichere Linie auch wieder zurück an die Front. Denn sonst fehlt den Kampftruppen das medizinische Material. Wir haben das in der Ukraine bis in die kleinsten Fronteinheiten durchstrukturiert. Das ist ganz entscheidend, denn wenn eine Einheit ihre Verletzten nicht versorgen kann, dann ist sie ziemlich schnell erledigt.

Ist das so anspruchsvoll wie es klingt?

In Afghanistan waren die Soldaten darauf trainiert, getroffenen Kameraden einen Druckverband anzulegen. Das reichte aus, denn binnen einer Viertelstunde wurden Verletzte in eine Versorgungsstation gebracht und bekamen dort ärztliche, wir nennen das "endgültige" Hilfe. Das hängt aber - nochmal - immer von der Intensität des Krieges ab. Trainiert die Nato ihre Truppen darauf, eine Bluttransfusion durchzuführen? Wir tun das. Sind Nato-Soldaten in der Lage, austretendes Blut aufzufangen? Unsere Soldaten lernen das. Das ist aber nicht der einzige Faktor.

Was ist noch entscheidend?

Logistik. Das ist unser Hauptproblem an der Front. Mit Blick auf Training der Soldaten stehen wir gar nicht schlecht da, und wir haben auch nicht wenige Mediziner zur Verfügung. Aber es gilt: Jeder Verletzte, Kategorie Alpha und Bravo muss ins Krankenhaus kommen. Dafür brauchen wir Logistik. Die Herausforderung ist, dass der menschliche Körper nicht warten kann. Wenn der hämorrhagische Schock irgendwann eingesetzt hat, …

… also zu wenig Blut zirkuliert, um die Organe ausreichend mit Sauerstoff zu versorgen …

… dann kann ich nicht rufen, "Moment mal, warte kurz". Wenn ich es nicht schaffe, diese Leute in die Klinik zu bringen, werde ich viele verlieren. Darum muss man alle Faktoren abdecken. Ressourcen, Logistik, Vorbereitung der Leute, auch ethisch zum Beispiel.

Deutschland wäre in einem möglichen Nato-Konflikt mit Russland kein Frontstaat, sondern eher ein großes Drehkreuz für Logistik, für Truppentransporte, auch für die Versorgung Verwundeter. Wie könnten wir anfangen, uns für solch einen Fall besser zu wappnen?

Ich sag es nochmal: Logistik. Die muss resilient sein. Denn Logistik ist das, was Ihnen Putin als erstes zerschießt. Sehr sinnvoll ist aber auch Zusatztraining für medizinisches Personal. Eine ballistische Wunde, also eine Verletzung durch eine schwere Kriegswaffe, verhält sich ganz anders als eine "zivile" Wunde. Das ist eine, wenn Sie so wollen, "Hoch-Energie-Verletzung". Nehmen wir als Beispiel eine durchdringende Brustwunde. Die kann von außen genauso aussehen wie ein Messerstich oder eine Schussverletzung, aber im Brustkorb drin verhält sie sich völlig anders. Die Energie verteilt sich, sie breitet sich etwa in den Hohlräumen aus und verletzt deutlich mehr Organe. Noch ein Beispiel.

Sehr gern.

Die Russen nutzen schon jetzt chemische Waffen in der Ukraine. Eine Verwundung durch eine sogenannte thermobarische Waffe ist wieder ganz anders als eine ballistische Verletzung. Andere Energie, andere Temperatur, völlig anders. Die Lunge wird in dem Fall schwer verletzt. Es fühlt sich an, als würde sie sich mit Blut vollsaugen. Die Folge ist akute Atemnot. Dazu verhält sie sich wie eine schwere stumpfe Verletzung. So, als wären Sie aus dem dritten Stock gefallen.

Was sollte die deutsche Zivilbevölkerung können?

Fangen Sie damit an, alle zu trainieren. Mit einfachen Kursen - "Stop die Blutung", einen Druckverband anlegen, das hilft schon sehr viel. An jedem Punkt im öffentlichen Leben, wo in Deutschland ein Defibrillator an der Wand hängt, sollte ein Trauma-Kit dazukommen.

Denys Surkow war eingeladener Redner auf der Defending Baltics Sicherheitskonferenz der Friedrich-Naumann-Stiftung, am 17. und 18. November in Vilnius. Mit ihm sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

NatoUkraine